Jetzt geht es also gefühlt wieder ins Frühjahr zurück. Heute vermeldet das RKI mit 6.638 Neuinfektionen zum ersten Mal einen Stand über dem Scheitelpunkt der Pandemie Ende März.
Seitdem hat unser Umgang mit dem Unheil eine steile Lernkurve durchlaufen. Die Medizin kennt das Virus nun viel besser, die ärztliche Betreuung profitiert davon mit neuen therapeutischen Verfahren. Es fehlt nicht mehr an Schutzmasken, mancher Übertragungsmythos gehört zu den Legenden. Mit einer Corona-Warn-App haben wir digital aufgerüstet, ZOOM zaubert uns Gemeinschaften auf den heimischen Monitor. Ins soziale Netz flossen Milliarden, wenngleich nicht immer mit ausgewogener Hand. Überwiegend verhält sich die Bevölkerung verantwortungsvoll. An den Rändern hat sich Widerstand formiert, aber das zeichnet nun einmal eine freiheitliche Gesellschaft aus, das muss man aushalten, zumal die Verschwörungsprosa über Fußnoten im Haupttext nicht hinausgelangt ist.
„Wir werden in ein paar Monaten wahrscheinlich viel einander verzeihen müssen“, sagte der Gesundheitsminister Jens Spahn Ende April. Was er damit meinte, ließ er offen. Aber es klang gut damals, offenherzig und sogar ein wenig seelenvoll, ein Satz, der die Kruste des Politsprech durchbrach. Er war in den Frühling hineingesprochen, in das steigende Jahr, ein jüngst ergrüntes Blatt, und ja, wenn man genau in Spahns Satz hineinhorcht, dann kann man auf seiner stillen Rückseite die Blattadern erkennen, durch die ein optimistischer Lebenssaft fließt, Jahreszeiten gemäß. Doch nun, im Oktober, welkt die Botanik, und wir gehen mit einem exponentiellen Wachstum in die dunkle Jahreszeit. Nun, ganz plötzlich, ist die Furcht wieder da. Ein zweiter Lockdown? Ein weiterer Absturz der Wirtschaft? Erneut Schulschließungen und eine Fortsetzung von Online-Semestern an den Hochschulen?
Damals, im Frühjahr, schien mir die Stimmung auf Weltuntergang gepolt. Es war, als ob der ganze Tisch kippte, auf dem alles steht. Heute haben wir die ›systemrelevanten‹ Bereiche mit Haftstreifen darauf festgeklebt. Man könnte auch sagen: wir haben uns in der Kunst der subtilen Differenzierung geübt. Vom Tisch sind die kleinen Existenzen gerutscht, die größeren Unternehmen lassen sich ihre Lohnkosten über Kurzarbeit vom Steuerzahler finanzieren, die ganz Großen haben erfolgreich Milliardenhilfen in Anspruch einfordern können – erinnert sei an die schamlosen Auftritte der Lufthansa und der Automobilkonzerne. Es sind die alten Strukturen, die sich in der Krise noch einmal verfestigt haben. Im Frühjahr noch machte das Zauberwort von der Transformation die Runde: ein kompletter Umbau unseres wirtschaftlichen Lebens in coronageschärftem Blick auf die Problemzonen Naturausbeutung und soziale Schieflagen. Kurzfristig wehte der Wind eines möglichen Neuanfangs durch die Welt, eines gestärkten Gemeinsinns in Achtung vor dem Wert und der Würde jedes einzelnen und eben nicht nur menschlichen Lebens in der Natur. Von diesem schönen Traum hat sich kaum etwas erhalten können. Stattdessen ziehen sich die Schleifspuren über die schiefe Tischplatte, sie erzählen von den Verlierern, vom stillen Sterben kulturellen Lebens. Es ist eng geworden und es steht zu fürchten: es wird hässlicher werden, rauer im gesellschaftlichen Ton. Die Ressourcen sind knapp geworden.
Dennoch: der Oktober ist nicht der April. Und es war uns allen klar: im Herbst werden wir mit höheren Infektionszahlen leben müssen. Vorsicht ist angesagt und Umsicht – Angst und Hysterie hingegen nicht. Der Weltuntergang findet dieses Jahr nicht statt und höchstwahrscheinlich bleibt jede und jeder von uns verschont vom Coronavirus in diesem Winter, die Chancen dafür stehen immer noch 99 zu eins. Die Welt der alarmierenden Zahlen und die Welt der je persönlichen Lebenskreise sind Parallelwelten, die nur durch einen schmalen Steg in Promillebreite verbunden sind. Doch halt!, so mache ich mir den Einwand, zoome ihn auf, diesen Steg, dann rücken sich dir die überlasteten Intensivstationen in Polen und Belgien in den Blick und demnächst die in Frankreich oder Italien!
Dann, so denke ich, ist der Oktober doch wieder der April. Nur dass wir es diesmal besser machen können, mit intensivärztlicher Versorgung über Landesgrenzen hinweg, in europäischer Solidarität. Vielleicht brauchen wir ein zweites Todesszenario für eine zweite Chance, doch endlich eine Transformation anzugehen? Die Coronakrise sei die große Bewährungsprobe unserer Generation, meinte heute der Bayerische Ministerpräsident Markus Söder. Das sind große Worte, die zu mehr verpflichten als zu Haftstreifen auf dem schiefen Tisch der Zivilisation.