Von engen und weiten Gürteln

Immer noch tagen Europas Staatschefs in Brüssel über die Corona-Hilfen, jetzt, wo ich das schreibe. Auf dem Spiel steht, ob die Idee Europas im real-existierenden Europa überleben kann. Das hoffen wir. Aber – wer ist dieses Wir?

In vier Monaten Weltkrise hat sich viel eignet. Schock, Lähmung, und dann mehrere Modelle, mit der Pandemie umzugehen. Vom blanken Leugnen reicht die Palette bis zu den schärfsten Ordnungsstrafen, die anfallen, wenn sich die Bürger nicht an die amtlichen Bestimmungen halten. Freiheit in Schweden, Überwachung via Smartphone in China. Europa geht dabei den besten Weg weltweit. Das jedenfalls konzedieren die US-amerikanischen Ostküstenmedien. Und die New York Times lobt vor allem Deutschland. Deutschland habe das Potenzial, der Gewinner der Krise zu sein, so kommentiert Ruchir Sharma in dieser Zeitung, und er ist mit seiner Einschätzung keineswegs allein. Die deutsche Gesellschaft beeindrucke durch ein hohes Maß an Gemeinsinn, die Institutionen seien intakt und funktionsfähig, die regierenden Eliten kompetent und verantwortungsbewusst, und vor stünden die Wissenschaften in hohem Ansehen. In amerikanischen Augen erscheint Deutschland als Erfolgsmodell einer partizipativen Demokratie, ein politisch funktionierendes und ökonomisch sehr erfolgreiches Gemeinwesen.

Und nun: Brüssel. Angela Merkels Schicksalsstunde. Sie und Manuel Macron beanspruchen die Führung Europas. Sie haben einen Plan vorgelegt, kein anderer liegt vor, abgesehen von einem dürftigen, in aller Schnelle gekritzelten Gegenentwurf der Nordländer. Sie pochen strikt auf fiskalische Autonomie, mehr kommt nicht. Es segelte langsam im Raum, es taumelte wie ein Flugblatt, das auch die europäischen Nationalisten erreichte, die gern den Rand der Rechtsstaatlichkeit ausprobieren, um ihn dann zu unterhöhlen wie in Polen oder Ungarn. In einer Weltkrise braucht es mehr Gemeinschaft, nicht weniger, mehr Europa, nicht weniger. Die alte Achse Europas dreht sich wieder. Sie hat den Plan für eine große Recovery des Kontinents. Aber ihr fehlen wichtige Speichen: die Frugalen Vier, Finnland, Polen, Ungarn, und es fehlen auch ihre Unterstützer Niederlande und Finnland. Eine stille Allianz der Neoliberalen mit dem autoritären Europa kündet von neuen Bündnissen im postcoronalen Zeitalter.

Blicken wir vom Süden auf den Kontinent! Dann sieht es nämlich besser aus, denn die Südländer haben für ihre Ansprüche, die sie seit Jahren bei der EU einklagen, zwei große Verbündete gewonnen. Geopolitisch können sie ihren Einfluss bis weit nach Mitteleuropa erweitern, das wird bleiben, selbst wenn der Sondergipfel scheitern sollte. Es gibt zu Europa keine Alternative, das wissen auch die nationalistischen Populisten in Polen und Ungarn. Zudem haben auch sie die Zivilgesellschaft im eigenen Haus, sie macht Druck auf der Straße. Europa – das ist eben ein sehr langer Weg.

Vielleicht, ja wahrscheinlich wird es überall Abstriche geben, Abstriche an den ursprünglichen Tönen, die von Frankreich und Deutschland orchestriert wurden. Es waren Antworten auf die beschämende Anfangsstunde der Pandemie, als die Lombardei und das Elsass zu Überlebenskampfzonen wurden, damals, als Russland und China propagandistisch ihre Hilfslieferungen schon auf dem Rollfeld mit den Fahnen ihrer Nation beflaggten. ›Nun wollen wir es besser machen.‹ Angela Merkel traf schon zur Flüchtlingskrise einen Nerv der Zeit, eine moralische Mehrheitsmeinung, die Ja zu Europa sagt. Wir wollen es besser machen, das ist leichter gesagt als getan, im realpolitischen Geschacher wird das nicht ohne Abstriche vor sich gehen. Hoffen wir, dass das Resultat trägt.

Ich bin der festen Ansicht, die Welt braucht Europa, jetzt, in dieser Weltkrise. Europa hat einen Spirit, einen Gemeinschaftsgeist, jedenfalls nach innen. Die Außengrenzen – ein anderes Thema. Doch es war ebendieser europäische Geist, mit dem Europa die erste Corona-Welle meisterte. Ja sicher, die erste Reaktion hieß Abschottung bei geschlossenen Grenzen. Aber gerade die neuen Zäune haben den Bürgern vor Augen geführt, wie tief und weitverzweigt das Wurzelwerk des Lebens im europäischen Boden geworden ist innerhalb einer Generation seit dem Vertrag von Maastricht 1993. In den Frühlingstagen, als Europa zuhause bleiben musste, berichteten die Medien von vielen skurrilen Geschichten wie die des älteren Paars, das an der deutsch-dänischen Grenze sich die Thermoskanne durch den Maschendrahtzaun reichte. Es ist die Welt vor Schengen, die zum Ausnahmezustand geworden ist.

Das europäische Projekt steht einzigartig in der Welt. Von Europa kann ein neuer gemeinschaftlicher Geist in die Welt hinaus wehen. Europa hat heute eine weltgeschichtliche Aufgabe. Sie besteht in einem Muss und in einem Kann. Europa muss sich heute positionieren zwischen die großen Rivalen Amerika und China. Und Europa kann ein Partner werden für den Rest der Welt, gemeinsam mit den pazifischen Verbündeten Japan, Australien und Neuseeland – für Afrika, Südasien und Lateinamerika. Es gibt viel zu tun und noch mehr zu gestalten! Die Stunde dafür ist jetzt.