Solidarität

Wir erleben gerade eine welthistorische Stunde. Denn kein Ereignis in der Geschichte der Menschheit kam mit vergleichbarer Wucht über die Zivilisationen. Nun schlägt die Stunde der Politik, die das Leben innerhalb weniger Tage neu organisieren muss. Nun geht es um alles, was uns wert ist. Die Gesellschaften müssen einen moralischen Stresstest bestehen.

In Wohlstandszeiten ist der bürgerliche Gemeinsinn eine soziale Tugend, die nicht allzu viel zu stemmen hat. In Krisenzeiten ist das anders. Dann wird uns bewusst, dass es uns selbst nur gut gehen kann, wenn es auch den anderen gut geht. Eine einfache Gleichung macht ihren Stich. Man kann sie auch gleichsam mit minus Eins multiplizieren, sie lautet dann: wenn es den anderen schlecht geht, dann geht es auch mir selbst nicht gut.

Man muss diese Gesellschaftsformel nicht eigens beweisen, in Zeiten der Krise folgen ihr Menschen intuitiv in ihren Kollektiven. Nachbarschaftshilfen haben Hochkonjunktur und ebenso die Dankbarkeit, die wir denen gegenüber äußern, die den Laden am Laufen halten. Die Medien stimmen uns alle ein auf Solidarität, Mitgefühl und Anstand. Die Profilierungssucht der Politiker und das Parteiengezänk pausieren für unbestimmte Zeit, eine Welle der Einigkeit rollt durch das Land. Allenfalls die Broker spekulieren auf fallende Kurse, hier zeigt der Markt selbst in Zeiten der Not sein hässlichstes, weil zerstörerisches Gesicht. In den solidarischen Soziotopen aber rücken wir alle zusammen, pflegen unsere Freundschaften, ja mitunter beenden wir sogar Feindschaften. Und weil wir uns auf Monate hinaus nicht den Luxus erlauben können, unser Heil in einem Impfstoff zu finden, bleibt uns nur, auf die Gesundheit des sozialen Körpers zu vertrauen. Aus sozialem Selbstvertrauen nährt sich derzeit die Hoffnung, ohne die Menschen nicht leben können. Nur wir allein können uns jetzt Hoffnung zusprechen, und dabei ist Solidarität unser wichtigstes Kapital.

Solidarität zieht Kreise mit verschiedenen Radien. Im Kernbereich die Sorge um Leib und Leben der Kranken, hier heißt sie »Kontaktverbot«. In Familien und Nachbarschaften stellt die Solidarität die physische und seelische Versorgung sicher. Die Bürger wenden sich nun verstärkt dem Qualitätsjournalismus zu, wo die bekannten Persönlichkeiten sich als Vorbilder für Gemeinsinn und Zusammenhörigkeit zeigen. Das ist gut so und zeugt von Charakter. Und auch die Regierung greift in die Vollen, um mit einem gigantischen Nachtragshaushalt den prekären Existenzen unter die Arme zu greifen. Doch dann, an der Staatsgrenze, droht der Solidaritätsfaden abzureißen. Mit Grenzschließungen und Einreisesperren schotten sich die Nationalstaaten gegenseitig ab, was auf ein nationales Kontaktverbot hinausläuft. In dünnen Rinnsalen tröpfelt aber weiterhin die Solidarität: Bayern und Baden-Württemberg leisten Italien und Frankreich medizinisch-technische Hilfe und nehmen von dort aus Patienten auf. Vielleicht sind diese und andere Aktionen ein gutes Stück Symbolpolitik, vielleicht reichen sie nicht, um uns dann, wenn der Virus eingedämmt sein wird, in Dingen europäischer Einheit ein passables Zeugnis auszustellen. Aber da kann, da wird noch mehr kommen.

Der weiteste Kreis der Solidarität bindet schließlich die Corona-Krise mit der Klimaerwärmung zusammen. Denn Solidarität verlangen die Älteren, die stärker infektionsgefährdet sind von den Jüngeren, deren Symptome sehr viel schwächer verlaufen. Gerade die Älteren aber haben – solidaritätsdefizitär – die klimapolitischen Anliegen der Jüngeren bestenfalls mit verständnisvoller Ignoranz quittiert. Mehr als Zahlenspiel war bislang kaum. Zugegeben, ein wenig holzschnittartig kommt das jetzt daher, da raschelt viel Statistik. Aber bleiben wir noch einen Moment lang noch in groben Linien: die Solidarität mit den Schwächsten der Gesellschaft verlangt von den Jüngeren, sich Hals über Kopf zu ruinieren. Dabei weigern sich die Älteren – immer noch grob gehobelt – den Jüngeren eine Welt zu hinterlassen, in der es sich ohne große Verluste leben lässt. Es wäre nur fair und solidarisch, würde die Menschheit mit ähnlichem Kraftaufwand das Überleben der nächsten Generation sichern.

Damit kein Missverständnis aufkommt: die derzeitigen Kontaktverbote sind alternativlos. Selten hat dieses anrüchige Wort so viel Sinn gemacht wie jetzt. Doch wir sollten die Rückkehr zu normalem Verkehr auch dann schon wagen, wenn die epidemiologische Situation noch gefährdet ist. Das scheint mir eine Sache der Solidarität mit denen zu sein, die ihr Leben noch weitgehend vor sich haben. Und dann wollen wir einen neuen Gesellschaftsvertrag einfordern, der Solidarität und Gemeinsinn ungleich stärker reflektiert als eine Wirtschaftsform, die den Gewinn über alles stellt.