Scham

Manchmal können sehr alte Texte ein Augenöffner sein. So berichtet Platon in seinem Dialog Protagoras, der Göttervater habe sich besorgt gezeigt ob des wüsten Treibens der noch jungen Menschheit. Dort auf der Erde schlugen sich die Menschen, sie begegneten einander mit Hass, Neid und Hinterlist. Zeus schickte seinen Götterboten Hermes hinunter, damit er sie mit der sittlichen Scham impfe. Ob er es so machen solle wie mit den Fertigkeiten, fragte Hermes seinen Boss, nämlich in ungleicher Verteilung? Ein Arzt reiche doch für viele andere, nicht jeder müsse also über ärztliche Kompetenz verfügen, und ebenso sei es mit den Handwerkern bestellt. »Verteile die Scham unter alle«, erwiderte Zeus, »und alle sollen teil an ihr haben. Denn es könnten keine Staaten zustande kommen, wenn nur wenige ihrer teilhaftig wären, so wie bei den anderen Künsten. Ja, gib sogar das Gesetz in meinem Namen, dass man den der Scham und Gerechtigkeit Unfähigen als einen Krebsschaden des Staates vertilge!«

Die Mythologie verfügt über den unschätzbaren Vorteil, aus olympischer Höhe das Geschehen überschauen zu können. Oder, so korrigieren psychologisch versierte Mythenforscher, aus der tiefsten Tiefe unserer Seele. Ich persönlich gebe den Letzteren meinen Kredit. Und ja, gerade wir Deutschen haben in der jüngeren Geschichte unsere Erfahrungen mit kollektiver Scham gemacht. Wir wissen, wie scharf ihre Säure ist, mit der sie sich durch die Generationen frisst. Und da ist es keine schlechte Übung, den Sprung über den Coronatag zu wagen, um zu imaginieren, wie wir aus den Augen der heutigen Kinder betrachtet werden und welche Urteile sie fällen werden über unsere moralische Integrität. Wie also war es damals, als das Virus wütete, mit unserer Hilfsbereitschaft bestellt? Welchen Radius hatte unsere Solidarität? Was ist aus Europa geworden, und was mit der so oft mit stolzem Brustton zitierten Internationalen Gemeinschaft?

Nach anfänglichem Zögern wurden schwerkranke Patienten aus Italien und Frankreich in unsere Kliniken geflogen. Doch zuvor kamen die Chinesen und die Russen mit Frachten von medizinischem Material und pflanzten medienwirksam ihre Fahnen auf die Kisten. »Es ist unbestritten: Italien war allein«, sagte der italienische Ministerpräsident Giuseppe Conte in einem Interview in der Süddeutschen Zeitung vom 21. April. »Ja, es ist wahr, dass niemand wirklich dafür bereit war. Es ist auch wahr, dass viele nicht rechtzeitig da waren, als Italien zu Beginn eine helfende Hand brauchte«, so entschuldigte sich die EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen im Namen Europas. Das Echo in den italienischen Medien dem deutschen Verhalten gegenüber war und ist verheerend. Alte Ressentiments gegen den mächtigen Nachbarn aus dem Norden brechen auf, als »Hitlers Enkel« beschimpft Elio Lannutti, ein Politiker der Cinque Stelle, die Deutschen. Umgekehrt warnen Kolumnisten und Politiker des Nordens davor, Euros in der mafiösen italienischen Gesellschaft zu versenken. Im rauen Ton zwischen dem Norden und dem Süden verflüchtigt sich der europäische Geist. Im saarländischen Kleinbittersdorf werfen Deutsche mit Eiern nach den Franzosen und beschimpfen sie als »dreckige Franzosen«: zurück mit Euch ins »Corona-Frankreich«! Auch wenn es Einzelfälle sind – sie lassen nationalistische Ressentiments aufleben, die man längst überwunden glaubte im europäischen Haus. Ja, werden wir unseren Kindern und Enkelkindern sagen müssen, dafür schämen wir uns noch heute. Dass wir den moralischen Schaden schlichtweg ignoriert haben, als es darum ging, mit europäischen Anleihen ein solidarisches Zeichen zu setzen, anstatt buchhälterisch den Stift zu zücken. Dass es uns nicht in den Sinn kommt, die strukturelle Ungerechtigkeit der Eurozone zu reparieren. Dass der Norden seine Vorteile einfach nur aussitzt, dass Geben und Nehmen nicht mehr im Gleichgewicht sind.

Vor drei Tagen kamen 47 unbegleitete Kinder aus dem Flüchtlingslager Moria im Landkreis Osnabrück an, nach wochenlangem Kompetenzgerangel zwischen Innenministerium und Europäischer Kommission. Ursprünglich sollten es 1500 Kinder sein, die eine ›Koalition der Willigen‹ aus dem Corona-gefährdeten Lager herausholen wollte, und selbst diese Zahl war schon eine Reduktion von ursprünglich angemahnten 5000 Kindern und Jugendlichen, die in den Lagern Gewalt und sexuellen Übergriffen recht schutzlos ausgeliefert sind. Zudem haben diese jungen Menschen auf der Flucht aus Afghanistan, Syrien und Eritrea ihre Eltern verloren und gerieten zum Teil jahrelang in die Wirren von Bürgerkriegen, Schlepperbanden und Deportationen. Sachsen-Anhalts CDU-Chef Holger Stahlknecht hält die Aufnahme der Kinder aus Moria für »derzeit absolut unangemessen«, für »deplaziert» und »weder politisch noch gesundheitlich tragbar.« Europa, eine Wertegemeinschaft, die sich den Jubelchor der 9. Symphonie Beethovens zur Europahymne erkoren hat mit dem Text Schillers aus der Ode an die Freude: »Freude, schöner Götterfunken, / Tochter aus Elysium, / Wir betreten feuertrunken, / Himmlische, dein Heiligtum. / Deine Zauber binden wieder, / Was die Mode streng geteilt, / Alle Menschen werden Brüder, / Wo dein sanfter Flügel weilt.«

Nun gut, werden Sie sagen, das alles ist doch weit weg. Wie sieht es in der Nähe aus? Dazu nur ein Beispiel: In einem benachbarten Haus verkauft der Apotheker der Rats-Apotheke in Esslingen Schutzmasken, die er eigens aus der Schweiz importiert. Schöne Stücke in farbigem Tuch, zwar ohne Ventil und Zertifikat, aber man könne da noch in einen eigearbeiteten Schlitz eine Damenbinde hineinstecken, sagt mir eine Dame, die in der langen und disziplinierten Schlange ansteht. Der Preis? Normalerweise ein paar Cent. Jetzt: 16 Euro das Stück.

Ja, die Liste ist lang. Meine nichtgeborenen Enkel hören mir immer noch zu. Und auch Sie, verehrte Leserin und Leser. Vielleicht, so denke ich und hoffe dabei, Sie im Boot zu haben, vielleicht wenden wir uns von unseren eigenen Sorgen mal einen Moment ab und widmen der freigewordenen Zeit einen Augenblick des Schämens.