Reisen in Corona-Zeiten

Wer reist, macht sich mit der Welt bekannt. Selten habe ich diese Wahrheit über das Reisen deutlicher gespürt und empfunden als in den letzten Tagen. Ich war auf kleiner Deutschland-Tour über Heidelberg nach Luxemburg, von dort hinüber ins Münsterland, dann hinauf in die Holsteinische Schweiz, wo ich meine alte Schule besuchte, die idyllisch im Wald unweit des Preetzer Kirchsees liegt. Dann kurvte ich mit meinem Motorrad nach Lüneburg, um von dort meine Tochter zu besuchen, die auf flachem Sachsen-Anhaltiner Land mit ihren Berliner Freunden ein verfallenes Landhaus samt Scheune und großem Garten restauriert. Berlin und Dorf weit draußen, das ist Trend.

Wer reist, macht sich mit der Welt bekannt – in Corona-Zeiten gewinnt das einen neuen Klang. Wochen-, ja monatelang kam Welt durch die Monitore zu uns. Und über die Zeitungen, das Radio und auch übers Telefon. Ich jedenfalls habe die Welt nicht mehr betreten, ich zog nur meine täglichen Wege durch die Stadt, zum Supermarkt, zum Buchhändler, zum Bäcker natürlich, und irgendwann öffnete auch die Eisdiele. Aber es waren routinierte Wege in einer Blase. Selbst wenn Amerika erschien über CNN und die New York Times, selbst das war nur Monitor. Monitor mit Wort und Video.

Das erkenne ich jetzt sehr deutlich, jetzt, nach meinem Freundes- und Familientrip in den Norden: der Weltverlust liefert uns unserer Blase aus, in der wir leben. Da kreisen, von den medialen Bildern in Szene gesetzt, die Ängste, die Sorgen, die wirtschaftlich extrem angespannte Lage, die bei nicht Wenigen existenzbedrohend ist. Wohin man auch schaut – überall nur Probleme. Die Pandemie frisst sich tief in den Leib der Gesellschaft und macht die großen systemischen Defekte sichtbar wie eine Stoffwechselkrankheit auf entzündeter Haut. Das alles ist real, das findet zweifellos statt, aber es ist dennoch Blase, ist nicht analog, und vor allem: es wird nicht wirklich erlebt. Man lebt in der Online-Welt in anderen Kulissen, anders als wenn man draußen steht in der physischen Welt, die im frühen Hochsommer schon satt im Getreide steht. Daran brause ich gerade vorbei, und dazu habe ich mir das luftigste Fahrzeug gewählt. Auf dem Sattel ist man extrem exponiert, es ist eher der Körper, der durch die Landschaft eilt, der auf der Autobahn die Spuren wechselt, laut braust es unter dem Helm. Welthungrig war ich unterwegs, hungrig nach analogem, wirklichen Raum. Nach Welt, die ich beobachte, ich und niemand sonst, es ist allein mein Blick, ich folge keiner fremden Choreographie. Wie war das doch: man reise, um sich mit der Welt bekannt zu machen? Jetzt könnte es heißen: man reist, um selber schauen zu können. Um eigene Erfahrungen zu machen. Denn nur das frischt den eigenen Kräftehaushalt auf. So jedenfalls ist das bei mir.

Auf meiner kleinen Deutschlandtour hatte die Natur eine laute Stimme. Auch das sehe ich jetzt. Ein abendliches Bad in der Ilmenau, im strahlenden Gegenlicht trieb ich mit K. flussabwärts an den nahen Ufern vorbei, mal Schilf, mal Baumwurzel. Der verhängte Himmel über dem Lankersee, der in der Landschaft verschwindet mit seinen Armen. Die Alleen durch die Lüneburger Heide, die Elbfluten, die Hühner auf dem Grundstück der Community meiner Tochter. Die beiden Elternstörche mit ihren zwei Kindern auf dem Nest oben auf dem Schornstein, immer wieder klappert es von dort herunter auf den Hof des Anwesens.

Die Stimme der Natur erzählt vom größeren Kreislauf des Lebens. Eine alte Weide mit zerklüftetem Stamm rückt mir die Proportionen meines eigenen Daseins zurecht. Was zähle ich denn schon im großen Naturtheater?  Die Überinformation, der ich ausgesetzt bin in der Corona-Krise, sie hat mich (und darf ich sagen: uns alle?) noch respektloser auf den existenziellen Käfig des Speziezisten verweisen, der sich für den Nabel der Welt hält. Doch das Wir der Mitmenschen, auch das Wir der Kulturgeschichte, das ich immens verehre, es ernährt meine Seele nicht. Das Menschengespräch ist weit und groß, aber ich (und wir?) brauche das Wir der Natur. Draußen sein, bei den Feldern, den Gräsern, das frühmorgendliche Anschwellen des Vogelgesangs über meinem Zelt auf der Wiese. Nur Hören und Sehen, die feuchtkühle Nachtluft in der Nase, und das alles ohne Worte.