»Den ganzen schier endlosen März über stellten die Amerikaner jeden Morgen beim Aufwachen fest, dass sie in einem gescheiterten Staat leben«, schreibt der US-amerikanische Journalist George Packer in der Juni-Ausgabe des renommierten Magazins The Atlantic. Die USA – ein failed state? Gemeinhin gelten gescheiterte Staaten als Gemeinwesen, in denen Oligarchen ihr Unwesen treiben, als Staaten, wo die herrschende Elite sich unmäßig bereichert, wo Testosteron das gesellschaftliche Klima aufheizt bis zu bürgerkriegsähnlichen Zuständen. Der ›Fragile States Index‹ der amerikanischen Zeitschrift Foreign Affairs listet für 2019 Jemen, Somalia und Südsudan in der Spitzengruppe auf. Wie – die USA werden 2020 dazu stoßen?
Gegenwärtig, Stand Ende Mai, fallen weltweit die Hälfte aller Corona-Infektionen und Todesfälle auf die USA, Brasilien, Russland und Großbritannien. Sie alle werden regiert von Männern, die ihre Macht auf die Allianz von Lügen, Leugnen, Korruption und Diffamieren gebaut haben. Donald Trump, Jair Bolsonaro, Wladimir Putin und Boris Johnson, sie alle sind machtbesessene Narzissten. Und sie sind Männer, die – Boris Johnson einmal ausgenommen – Männer sind und Männer sein wollen. Die es für unmännlich halten, Angst zu haben vor so einem kleinen Virus. Trump und Bolsonaro sind dabei die beiden Prototypen eines neuen-alten Führers. Trump gibt den Immobilienmagnaten und Bolsonaro den Caudillo. Heerführer sind sie beide, für sie ist der Kampf das politische Element, darauf verstehen sie sich, und konsequent verschieben beide, Trump wie Bolsonaro, die Ratio der Politik von der Verständigung zur Konfrontation. Beide haben das Virus lange ignoriert, haben es auf ein Grippchen reduziert, und nun, wo das medizinische Personal zur Schlachtbank geführt wird, weil ohne Schutzkleidung ausgerüstet, nun bringen sie sogar noch das Kunststück fertig, das Virus populistisch auszuschlachten. Trump zeigt auf China, er zeigt Xi Jinping die rote Karte, er zündelt den kommenden Konflikt zwischen alter und der neuer Weltmacht. Bolsonaro dagegen zündelt im rohstoffreichen Amazonien, wo er für die Großagrarier kämpft, die vorstoßen in die Wildnis des Urwaldes, um Soja und Fleisch zu erzeugen für harte Devisen. Dafür, so scheint das brasilianische Narrativ zu lauten, dabei braucht es ganze Männer, auf jeden Fall einen starken Willen, mit dem man sich über vieles hinwegsetzen kann.
Die Corona-Krise macht die Tiefenstruktur beider Gesellschaften lesbar, der US-amerikanischen wie der brasilianischen. Derzeit dominiert dort der Einzelkämpfer-Typus, die auf sich selbst gestellte und in der Not verlassene Existenz. Aus den Favelas und den Mittelschichtsvierteln klappen abends die Töpfe, es gibt Hunger, aber es gibt auch den agrarischen Krieg gegen die Natur, die so üppig und stark ist in den Regenwäldern. Die nordamerikanische Variante, die das System Trump verkörpert, legt ähnlich brutal der Natur zu, sie schürft, pumpt und frackt. Es ist Natur, die zum Abschuss freigegeben ist. Davon gibt es schließlich reichlich zwischen den beiden Küsten.
Wo aber stehen die Menschen dabei? Weshalb haben sie solche Personen gewählt, die ihren klebrigen Film auf allem hinterlassen, was sie anfassen? Wie kann ich den Applaus verstehen, der Trump entgegenbrandet, wenn er sein 17-Wort-Vokabular ins Kreisen bringt? Wie sehen die Kräfte aus, die in den vom Populismus infizierten Gesellschaften wirken? Ich möchte das gern wissen, denn ich spüre: Trump und Bolsonaro verfolgen einen politischen Nihilismus, der Schule machen könnte. Beide verhökern den Gemeinsinn, jene edle demokratische Tugend, auf dem Markt, alles ist nur noch Deal. Wie können zutiefst traditionelle, weil religiös inspirierte Gesellschaften derart degenerieren, frage ich mich immer wieder. Weshalb verfängt die Fäkaliensprache, die Trump und Bolsonaro in den politischen Diskurs eingebracht hat und dem selbst Frauen verfallen?
»Der Sinn von Politik ist Freiheit«, schrieb vor einem halben Jahrhundert Hannah Arendt, tief beeindruckt von dem politischen Geist Amerikas. Davon ist heute, nach eben derselben Jahrhunderthälfte nur noch wenig geblieben. Mit der Wahl Richard Nixons 1968 begann die Polarisierung der amerikanischen Gesellschaft, meint der New Yorker Romancier Paul Auster. In ihrem Malstrom pulverisiert die Freiheit und zerfällt zu Staub. Übrig bleibt ein demagogischer Kampfbegriff für einen aggressiven Nationalismus.