Plötzlich sieht vieles anders aus

Kaum jemand hat sich so euphorisch über das politische Leben ausgesprochen wie Hannah Arendt. Der Sinn von Politik sei Freiheit, Punktum. Und Freiheit? „Das Wunder der Freiheit liegt im Anfangen-Können beschlossen“, jeder Mensch könne eine Weltlinie beginnen, und deshalb dürfe man von der Politik Unerwartetes, Unwahrscheinliches, ja Wundervolles erwarten. Wie bitte – von der Politik? Hannah Arendt dachte dabei weniger an die institutionalisierte Politik, weniger an die etablierten Politiker und Parteigänger als vielmehr an das urwüchsig Politische, das menschliche Leben nämlich. Immer wieder finden Neuankömmlinge dort hinein. Und irgendwann artikulieren sie sich als politische Akteure und beginnen eine neue Ära.

Die Neuankömmlinge auf der politischen Bühne

Ein solches Wunder entfaltet sich gerade vor unseren Augen, heute, im Jahr 2019, dreißig Jahre nach dem letzten großen Wunder, als die Bürger Osteuropas ihre Angst abschüttelten und ihre Regimes stürzten. Heute allerdings gehen die Impulse tatsächlich von den Neuankömmlingen aus, von Schülern und Studenten. Sie artikulieren nichts anderes als ein fundamentales Recht: das Recht auf Leben unter lebensfreundlichen Umweltbedingungen. Keiner Generation zuvor wurde ein solches Recht abgestritten. Darauf gründet der Generationenvertrag jeder Gesellschaft: Die Älteren übergeben den Jüngeren eine Welt, in der es sich nicht schlechter leben lässt, die Jüngeren sorgen für einen entspannten Lebensabend ihrer Eltern. Die Demonstrierenden der ›Fridays for Future‹-Bewegung protestieren gegen die einseitige Aufkündigung dieses Generationenvertrages durch die Älteren. In wenigen Monaten haben es die Schüler und Studenten geschafft, die etablierte Politik vor sich her zu treiben. Und die macht die denkbar schlechteste Figur. Humorlos und schmallippig schwingen die einen den Rohrstock: Schule schwänzen müsse bestraft werden. Andere sprechen den ‚Kindern‘ das Urteilsvermögen ab. Diffamieren das Recht auf Leben und Zukunft als ‚Klimahysterie‘ und delegieren die Fieber senkende Therapie an die nächste Großkonferenz. Oder man raunt von phantastischen Technologien wie dem Brennstoffzellenflugzeug, der CO2-Einlagerung oder dem Geo-Engineering: unseren Ingenieuren wird schon etwas einfallen. Das alles ist nicht falsch, aber es wirkt als Feigenblatt, es verstellt den Blick auf die Maßnahmen, die sofort anstehen müssen, denn es bleibt uns kaum noch Zeit.

Umweltpolitik ja bitte, aber kostenneutral. Fiskalisch soll alles so bleiben, wie es ist. Die Demonstranten von heute sind die Steuerzahler von morgen, und spätestens dann werden sie, so das offenherzig-zynische Kalkül mancher Politiker, die Zwänge der Buchhaltung verstehen. Das mag sein, aber es übersieht ebenjenen Posten, auf den Hannah Arendt setzt: Stets pulsiert frisches Blut in den Arterien gesellschaftlicher Kreisläufe. Schüler und Studenten wird es solange geben, wie Menschen sich dazu entschließen, für Nachwuchs zu sorgen. Der Ruf nach einer ökologischen Aktualisierung des Generationenvertrages lässt sich nicht einfach aussitzen.

Die Lücke der Glaubwürdigkeit

Zwischen Reden und Handeln hat sich in den letzten Jahrzehnten eine Lücke der Glaubwürdigkeit geöffnet. Sie hat sich zu einer eiternden Wunde entzündet, und über alle falschen Worte finden weitere Bakterien ihren Zugang zum infizierten Zellgewebe der Gesellschaft. Dort wuchert ein ideologisches Geschwür, das stark in Worthülsen auftritt, um möglichst schwach zu handeln. Es braucht ein Argument in neuer Qualität sowie eine kritische Masse derjenigen, die es artikulieren, um die eingespielten Diskursstrukturen einer gesellschaftlichen Praxis aufzubrechen. Die ›Fridays for Future‹-Bewegung hat beides erreicht. Das Argument ist schlicht und einfach: es geht darum, den Jungen ihre Zukunft nicht zu rauben. Der Weg zur kritischen Masse war länger, er begann am 20. August 2018 mit der einsamen Mahnwache der Greta Thunberg vor dem Schwedischen Reichstag. Bekannt sind alle Versuche seitens der Politik, aber auch mancher Medien, die Integrität der 16-Jährigen Schwedin und mit ihr die anschwellenden Schülerproteste zu diskreditieren, die zunächst in Australien und Belgien begannen und von dort aus auf viele andere Länder übersprang. Eine neue Ernsthaftigkeit nimmt ihren Weg in den politischen Diskurs, mit beeindruckender Energie organisiert eine mit den sozialen Netzwerken vertraute Generation eine Bewegung. Neue Gruppierungen wie ›Scientists for Future‹ und ›Parents for Future‹ schließen sich an. Die ‚alte‘ Diskursgesellschaft reibt sich verwundert die Augen: Wie ist es möglich, dass junge Menschen zwischen Pubertät und Adoleszenz plötzlich die Welt verändern können?

Plötzlich sieht vieles anders aus

Ebenso plötzlich sieht vieles anders aus: Da fragen sich Journalisten, ob sie nicht ihren journalistischen Auftrag verfehlten, als sie sich „mit den Geschichten abspeisen haben lassen, die ihnen die Politiker geliefert haben“ (so Marc Beise in der ZEIT vom 29. Mai 2019). Nicht selten haben die immergleichen, nach Parteienproporz ausgewählten Politgesichter bei Anne Will und Maybrit Illner die sachliche Auseinandersetzung torpediert mit ihren immergleichen ausgestanzten Parolen, mit denen sie sich gegenseitig ins Wort fallen. Plötzlich sieht vieles anders aus: Man sieht den eigenen ökologischen Fußabdruck – ist eine Kreuzfahrt wirklich noch zu wollen? Der Fernflug in die Sonne aus dem wintergrauen Europa? Unsere Ernährungsgewohnheiten? Plötzlich sieht vieles anders aus: Von ökologischer Verantwortung wurde viel geredet, jetzt kommt es darauf an, sie auch zu wollen und zu übernehmen. Plötzlich sieht vieles anders aus: Ist die ökologische Ernsthaftigkeit der jungen Generation vielleicht die letzte Trumpfkarte der Zivilgesellschaft, die sie gegen eine Ökodiktatur ausspielen kann?

Die letzte Trumpfkarte der Zivilgesellschaft

Wenn sie stechen könnte, diese Karte, dann wäre das ein grandioser Beleg für die Problemkompetenz einer freiheitlichen Zivilgesellschaft. In ihr würde die Wissenschaft nicht nur für technologische Innovationen gut sein, sondern auch für gesellschaftliche und kulturelle Expertisen. Der Jugendbewegung ist anzuraten, dass sie sich nicht vereinnahmen lässt von den Eliten der Gesellschaft. Dass sie ihre Beweggründe beharrlich vertritt und die korrumpierten Generationen vorführt. Dass sie auf Antworten pocht. Und wenn diese ausbleiben oder wenn wie bisher nur politisch verschwurbelte Attrappen als Antworten angeboten werden, dann sollte die Jugendbewegung ihr Vokabular verschärfen. Und wenn das alles nichts nützt, weil die Gesellschaft taub geworden ist in ihrem Hedonismus, dann bleibt ihr die ultima ratio: die Aufkündigung der Kooperation.

Spätestens dann zieht eine weitere neue Zeit herauf, die Zeit der Ökodiktatur. Bis dahin haben wir vielleicht noch ein oder zwei Jahrzehnte Zeit. Derzeit steht es günstig für die letzte Trumpfkarte der Zivilgesellschaft, denn in der Geschichte der Menschheit erfreute sich keine politische Bewegung so vieler Sympathien wie die jetzige Unruhe in der Jugend.

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