Liebe Leserin, lieber Leser,
Es gibt Zeiten, in denen Philosophen auch politisch hervortreten müssen. Auch? Ist denn Philosophie im Kern unpolitisch?
Die Pariser Attentäter haben den freiheitlichen Zivilisationen den Krieg erklärt. Und weil es um Freiheit, um den obersten Wert unseres Zusammenlebens geht, muss und darf die Philosophie nicht schweigen. „Je suis Charlie“ – der Satz spricht philosophisch aus: Meine persönliche Identität endet nicht am Gartenzaun meiner Existenz, vielmehr bin ich Teil einer Kultur politischer Expressivität, der ich meine individuelle Freiheit verdanke. Ich bin ein Einzelner nur, weil ich das Glied einer Gemeinschaft bilde. Nicht ein stilles, sondern ein lautstarkes, ein solidarisches. Dafür sind am zweiten Sonntag des Jahres 2015 an die 4 Millionen Menschen durch die Straßen Frankreichs gezogen.
Was bleibt mir philosophisch dazu zu sagen?
Zunächst: die Opfer. Siebzehnmal der Tod, siebzehnmal ging plötzlich im Gewehrfeuer die Welt unter. Nicht, weil Krankheit oder Alter den Abschied forderten, sondern eine fanatische Ideologie, die denen, die anders leben, das Existenzrecht auf unserem Planeten verweigert. Siebzehn einzigartige Lebensgeschichten, siebzehn einzelne Welten aus Erinnerungen, Erwartungen, Plänen und Vorhaben. Ausgelöscht und ins schwarze Nichts gestoßen. Jede dieser Welten vernetzt und verbunden mit Angehörigen und Freunden und, wie im Fall der französischen Zeichner von Charlie Hebdo, mit Tausenden von Lesern und Millionen von Mitbürgern, die ganz gewiss nicht jede satirische Aussage teilen, das Recht und die Notwendigkeit der satirischen Aktion aber ausdrücklich bekräftigen. Und darum geht es jetzt, und nicht um Fragen des Geschmacks.
Sodann: Es gibt Zeiten, in denen es gilt, Farbe zu bekennen. Pegida? Nein danke. In Frankreich ist nicht das Volk auf die Straße gegangen, sondern Weltbürger – ein entscheidender Unterschied. ‚Volk‘, das sind Kollektive des 19. und 20. Jahrhunderts. Weltbürger hingegen gründen ihre humanitären Werte auf der universalen Menschengemeinschaft, sie grenzen sich nicht ab und nicht andere aus. Wahres Weltbürgertum setzt sich ein für das demokratische Recht auf Meinungsfreiheit und identifiziert sich mit denen, die intolerantem Hass zum Opfer fielen: „Je suis Charlie“.
Es gibt Zeiten, in denen das Wahre sich deutlich vom Falschen trennt – für Philosophen eine seltene Erfahrung, die ebenso selten im einzelnen Argument stattfindet. Eher schon geschieht das im Fluss von Gedanken, im dialogischen Austausch. Doch wenn die Zivilgesellschaft sich machtvoll äußert wie am 11. Januar 2015, dann ereignet sich Wahrheit geschichtlich – als die Wahrheit der Freiheit.
Danke, Stéphane Charbonnier, Jean Cabut, Georges Wolinski, Philippe Honoré, Elsa Cayat, Bernard Maris und Bernard Verlhac. Ihr habt uns in unser weltbürgerliches Gesicht schauen lassen, ihr habt uns zum aufrechten Gang gegen Intoleranz und Rassismus aufgefordert.
Wenn die Welt ein wenig näher zusammenrückt, wenn aus Gegnern Partner werden, dann war Euer Tod war nicht umsonst gewesen.