Mit den Verlusten leben lernen

Vor einigen Tagen war ich in heller Aufregung. Was, wenn mir meine wirtschaftliche Existenz zusammenbricht? Ich bin im touristischen Sektor tätig und muss nun reihum meine philosophischen Reisen absagen, ein Ende ist derzeit nicht absehbar. Seitdem lebe ich von meiner Altersvorsorge, Solo-Selbständigkeit ohne Auffangnetz. Wie soll ich meine beiden Kinder, die in der Ausbildung stehen, weiter finanzieren? Wie meine Miete aufbringen? Nervös und von Existenzängsten geplagt hing ich vor den Infektions- und Todesstatistiken.

Doch dann begriff ich, dass ich lernen müsse, mit Verlusten zu leben. Bislang ging es ja immer aufwärts, langsam zwar, aber ich konnte und durfte auf meine Fähigkeiten vertrauen. Mit Verlusten leben zu lernen, das wird, so denke ich, eine soziale Kompetenz für uns alle sein, die wir einüben müssen. Dabei gilt es, den Schalter umzulegen, von oben nach unten. Und selbst wenn der eine oder die andere dank größeren Vermögens den Kopf aus der Schlinge ziehen kann – unsere Kinder, Enkel, Urenkel und  andere noch Ungeborene werden auf kleineren Füßen stehen müssen. Aber das kann uns eigentlich nichts Neues sein. Denn unser Planet hat nun einmal begrenzte Ressourcen, meine Generation hat sie über Gebühr strapaziert, und nur die radikalsten Technik-Nerds glauben, dass es uns gelingen könne, mit immer ausgefeilteren Erfindungen Wohlstand und Mobilität weiter zu steigern und aus unserem Gestirn ein perpetuum mobile zu machen.

Doch bis gestern konnten wir uns damit abfinden, dass die Ozeane langsam steigen, und mit frivolem Zynismus konnten wir uns damit trösten, dass wir uns mit Euro, Dollar Renminbi und Yen weiterhin unsere Anteile an den sinkenden Ernteerträgen schon sichern werden. Die Verknappung schien eher ein Problem der anderen zu sein, der Latinos, der Afrikaner, der Inder. Oder eben auch des Prekariats. Doch jetzt addieren sich die gravierenden Systemfehler in einer Geschwindigkeit auf, die das exponentielle Wachstum der Infektionen noch überschreitet. Die US-amerikanische Arbeitslosenkurve gibt uns einen Vorgeschmack darauf, was die Industrienationen binnen Kürze erwartet.

Das System erleidet gerade einen Burn-Out. Und jede umsichtige Burn-Out-Patientin muss sich neu austarieren auf Leistung und Erfolg, denn ihr sind ihre eigenen energetischen Grenzen aufgezeigt. Sie hat sich verausgabt, sie hat über ihre Verhältnisse gelebt. Und dabei hat sie ihr eigenes Selbstverhältnis vernachlässigt. Jetzt wird sie sich auf andere Werte hin orientieren. Sie wird lernen, die Verluste, die sie auf der einen Seite erleidet, mit anderen Gewinnen zu kompensieren. Und vielleicht sind die Gewinne gar größer als die Verluste. Die Definitionsmacht liegt bei uns. Das eine, das sind die Werte unserer Immobilien und Anlagevermögen, unseres Konsumverhaltens und des darüber konjugierten sozialen Prestiges. Das andere ist ein lebenswertes Leben, das über die eigene Biographie hinausgreift und Leben überhaupt meint: Begegnung, Solidarität und Mitgefühl, Stunden tiefer, wertvoller Freude über die Ausdruckskraft und Vitalität unserer Mitbürger, Verantwortungsbereitschaft auch zum fernen Anderen, sei es Mensch, Tier oder Pflanze. Sich am wertvollen Strom des Lebens zu erfreuen und nicht an den monetären Beständen. Mehr Sein und weniger Schein. Dies und vieles mehr wäre zu nennen, die Narrative dafür sind bewegender, berührender als die Verluste, mit denen wir nun umgehen müssen.

Aber, wird man einwenden, drohen nicht auch schmerzhafte Verluste auf Seiten der Kultur? Theater werden schließen müssen, kleine Orchester werden sterben, experimentelle Bühnen, avantgardistische Kunst und lokale Kulturvereine, in denen mit schmalem Budget Bürger sich ehrenamtlich für ihre Mitbürger engagieren, Kaffee und Kuchen aus heimischer Küche mitbringen für das kulturelle Sonntagsbrunch . Vielleicht aber werden ja diese Formate überleben, weil sie sich im Kleinen organisiert haben und von der Sympathie der Nahverhältnisse getragen sind. Gerade in den letzten Jahren hat die Kultur in ihren Megaevents übergroß aufgespielt und hat die Grenze zum Kommerz überschritten. Das Geschäftsmodell Abu Dhabis wird sich wahrscheinlich nicht retten lassen. Ein regionales Kabarett hingegen sehr wohl, wo die Lust an der Kunst das treibende Motiv ist und nicht die Vermarktung über Emirates und Studiosus.

Wir werden lernen, mit unseren Verlusten zu leben. Manche wird es hart treffen. Aber vielleicht dürfen sie sich auf einen Gemeinsinn verlassen, der neue Dimensionen erreicht. Das wäre zu hoffen. Uns bleibt nur die Hoffnung. In modernen Gesellschaften, wo auf die rettende Intervention eines Gottes nicht zu zählen ist, adressiert sich Hoffnung immer auch an das menschliche Miteinander.  Vielleicht geht alles auch etwas kleiner – und besser.