In seiner Einleitung zur ›Phänomenologie des Geistes‹ warnt Georg Wilhelm Friedrich Hegel eindringlich davor, von der Wissenschaft zu erwarten, sie müsse fehlerfrei operieren. Die wissenschaftliche Erkenntnis, so bringt er es in ein optisches Bild, sei wie ein Lichtstrahl, der, wenn er durch ein Medium dringt, eine Brechung erfährt – und es nütze nichts, wenn man in Kenntnis der Brechungsgesetze den Winkel der Abweichung im Resultate korrigiere, denn es sei der Strahl selbst, wodurch die Wahrheit uns berührt: „Dass diese Furcht zu irren schon der Irrtum selbst ist.“
Heute prangt Hegels Zitat in Leuchtschrift an der Eingangsfassade des Stuttgarter Hauptbahnhofs. Manchen Stuttgart-21-Befürwortern galt und gilt er als philosophischer Einspruch des berühmtesten Sohnes der Stadt gegen die Bedenkenträger des Großprojektes. Man könnte mit Hegels berühmtem Satz aber auch das gesellschaftliche Handeln in der Corona-Krise kommentieren. Denn gegenwärtig fahren die Zivilisationen rund um den Globus »auf Sicht« und »ohne Drehbuch«, so lauten zwei sehr treffende Metaphern. Irrtümer bleiben da nicht aus. Hegel wusste das, ja er machte geradezu den Irrtum salonfähig, weil er, Hegel, ihn, den Irrtum, zum produktiven Motor des Erkennens machte. Auch Hegel fuhr »auf Sicht«, aber, und das markiert den entscheidenden Unterschied zu uns Heutigen, Hegel vertraute darauf, dass die Vernunft dabei das Drehbuch schreibt. Und er setzte dazu auf die Reflexionskraft der Vernunft, die die kleinen Fehler durchschaut und sie auf diese Weise in den Fortschritt des Menschengeschlechtes hineinwebt.
Befinden wir uns heute noch in Hegels vergleichsweise komfortabler Lage? Zweifel sind angebracht. Die Covid-19-Pandemie zeigt uns im Zeitraffer, mit welchen Problemen wir in naher Zukunft zu kämpfen haben. Probleme, die zu großen Irrtümern auswachsen können, wenn wir jetzt nicht achthaben. Die Weltkrise ist ein Testlauf für das Kommende, eine Simulation einer drohenden Katastrophe epischen Ausmaßes. Sie zeigt uns, welche Optionen wir noch haben und welche schon verspielt sind. Und sie zeigt uns auch, welchen Preis uns die verbleibenden Handlungsmöglichkeiten abfordern. Ja sicher, es wird weiterhin menschliches Leben auf der Erde geben, für viele, aber wie wird es aussehen? Spielen wir das Szenario einmal kurz an einem einzigen Gesichtspunkt durch.
Der weltweite Lockdown parzelliert die Weltgemeinschaft entlang nationalstaatlicher Grenzen, und weitere Grenzen schneiden tief in das soziale Fleisch jeder Gesellschaft und separieren jung von alt, Armut von sozial Privilegierten, Gewinnern von Verlierern. Grenzen sichern Unterschiede, sie müssen verteidigt werden. Sicherheit wird zum tragenden Rational der Gesellschaft. Welcher Raum bleibt der Freiheit, die einst, seit dem Beginn der Neuzeit, die Legitimationsgrundlage gesellschaftlichen Lebens war? Vielleicht überlebt sie im Vokabular einer Sicherheitsgesellschaft, vielleicht war Freiheit in ihrem gesellschaftlichen Kleid immer schon ein wenig Fake, vielleicht lässt sich bei verbesserter Verblendungsanstrengung da noch mehr polieren, und vielleicht fällt sogar manchem Intellektuellen dazu noch ein schräges Argument ein. Die totalitären Gesellschaftsexperimente bieten da ja manches an, man müsste es nur auf die neue Weltlage kopieren, in der das Überleben zum Grundwert geworden sein wird. Aber wenn es denn tatsächlich dazu kommen sollte, Freiheit, Solidarität und Mitgefühl auf dem Altar der ausgrenzenden Sicherheit zu opfern, dann wird die Menschheit wieder ein Herdendasein führen wie einst, bevor sie in das Stadium der Zivilisation getreten war. Die sozialen Netzwerke haben in den letzten Jahren schon einiges an Pilotfunktion geleistet für eine parzellierte Ethik, die im Anderen einen Virenträger sieht, der mich mit seinem Elend anstecken könnte.
Noch sind wir nicht so weit. Die Vernunft kann aus der simulierten zivilisatorischen Katastrophe lernen. Noch haben wir es in der Hand, unsere eigene Gesellschaft umzubauen und – unser wirtschaftliches und kulturelles Kapital im Rücken – auch der Weltgesellschaft wichtige Impulse zu geben. Die kleinen Irrtümer liegen uns deutlich vor Augen: den Einzelhandel stärken und auf die perversen Bequemlichkeiten des Online-Handels zu verzichten. Aus den Immobilien nicht das Marktmaximum herauszupressen. Unsere Lieblingskneipe, unser kleines privatwirtschaftliches Theater über ein Crowdfunding unterstützen wie es etwa Startnext oder 99 Funken anbieten. Viele kleine Irrtümer, die wir in den letzten Jahren begangen haben, lassen sich mit eigener Initiative korrigieren.
Die mittelgroßen Irrtümer sind schwerer zu kurieren. Sie liegen in der strukturellen und organisatorischen Unwucht der Gesellschaften. Sie betreffen Steuergerechtigkeit und Steuerflucht, Kapitalzugänge, Verkehrs- und Infrastrukturpolitik, ein sorgfältigeres Abwägen von Investitionen im Hinblick auf Gemeinwohl und Naturverbrauch, eine kritische Bestandsaufnahme von Ungleichheit und Gerechtigkeitsdefizite und manches mehr. Da stehen viele Üblichkeiten zur Revision an. Aber der Krisenschock, der jetzt durch die Gemeinschaften gefahren ist, könnte die Gunst einer glücklichen Stunde, einen Kairos, bedeuten. Wir könnten jetzt verstehen lernen, dass uns individuelle Lösungen mehr schaden als nützen. Zugegeben, das wird aus freien Stücken, dem individuellen goodwill anheimgestellt, nicht glücken, dazu bedarf es gesetzgeberischen Handelns. Große Vermögen und üppige Pensionen sollten zu solidarischen Abgaben verpflichtet werden.
Die wirklich großen Irrtümer aber sind die ganz harten Nüsse, denn sie verlangen ausgleichenden Verzicht von den reichen Nationen. Eine neue Weltwirtschaftsordnung, ein verändertes Konsumverhalten, die Liste ist lang und bekannt. Sie enthält die schweren Fehler, die wir begangen haben, wider besseres Wissen, denn bislang waren wir die Profiteure der technologisch-ökonomischen Entwicklung der letzten Jahrhunderte. Das größte Problem aber ist eines, das keinen eigentlichen Irrtum darstellt: Der unleugbare Tatbestand, dass wir viel zu viele sind. In Afrika wird sich den Prognosen zufolge die Bevölkerung bis 2050 auf zwei Milliarden Menschen verdoppeln. Indien wird noch einmal um 30% zulegen auf dann 1,7 Milliarden. Weltweit muss unser Planet dann knapp 10 Milliarden Menschen ernähren, heute zählen wir schon 7,7 Milliarden. Doch das sind nur kalte Zahlen, Nahrung für Statistiker. Dahinter verstecken sich die Einzelschicksale, die Frauen etwa, die in der Sahelzone mehrere Kilometer bis zur nächsten Wasserstelle laufen. Oder die indischen Wanderarbeiter, die bei Verhängung des Lockdowns wie Abwasser behandelt würden, das aus einer Fabrik abgelassen wird, wie die indische Schriftstellerin Arundhati Roy mit ergreifender Bitterkeit schreibt. Es muss der gesellschaftlichen Vernunft gelingen, den Teufelskreis zu durchbrechen, in den die Familien traditioneller Kulturen gefangen sind, wo auf die Kraft der vielen Kinder gesetzt wird, um das wirtschaftliche Überleben zu sichern. In Niger, Mali, Somalia, Tschad und Nigeria gebären die Frauen 6-8 Nachkommen.
Eng verbunden mit diesem Bevölkerungswachstum ist der exorbitante Landschafts- und Naturverbrauch. Aber hier, an dieser Stelle, kommen wieder die Profiteure in den Blick, die reichen Nationen, die den größten Anteil am Naturraub nehmen durch ihren, durch unseren ökologischen Fußabdruck. Das wäre ein eigenes Thema, hier nur so viel: auch hier gibt es die kleinen, individuellen Lösungen. Teilen statt besitzen etwa, und: muss es schon wieder eine Kreuzfahrt sein? Beglückt es nicht eher zu wissen, dass man mit seinem Handeln Richtiges tut statt Falsches, das man sich selbst nicht zugeben darf? Beschädigen wir nicht durch beständiges Leugnen unserer Handlungsfolgen nachhaltig unseren seelischen Haushalt?