Kinder

Heute Morgen las ich über mein Frühstücksbrötchen gebeugt in der ZEIT einen Artikel, der den Blick auf eine Spezies lenkt, die in den letzten Wochen des Lockdowns kaum wahrgenommen wurde: die kleinen Kinder. Und wenn doch von ihnen im aufgeregten Virendiskurs die Rede ist, dann überwiegend nur in versetzter Perspektive: Schule, Kindergarten oder die gestressten Eltern beim Homeschooling ihrer Kleinen. Doch wie steht es um ihre eigene Wahrnehmung? »Große Leute können die Krise meistern, indem sie auf deren Ende hoffen. Kleine können das nicht, sie leben im Jetzt.« (Johanna Schoener in der ZEIT vom 23.04.2020)

Es ist viele Jahre her, dass meine beiden Kinder klein waren. Wir, die Eltern, lebten damals in einer völlig anderen semantischen Welt. Es war die Welt des Sorgens und Besorgens, des Organisierens, des abendlichen Vorlesens. Es war eine Welt, durch die immer wieder der frische Wind eines Fragens wehte, der uns Eltern eine ungewohnte Beleuchtung auf die Dinge warf. Wer hat die kleinen Steinchen in den Teer hineingehämmert? Welches Auto schaut fröhlich aus seiner Frontpartie und welches traurig oder wütend? Und dann die Klassiker: Wenn ich die Augen schließe, ist die Welt dann noch da? Ist Gott, der die Welt erschaffen hatte, nicht schon lange tot? Eltern kennen diese und andere Fragen, und zum größten Glück der Elternschaft gehört wohl, sich auf sie einzulassen, lustvoll mitzuspielen und sich in einem Beziehungsgewebe zu bewegen, das ihnen andere Augen öffnet. Eltern können dann eine ungewohnt liebevolle und zärtliche Begegnung mit dem machen, was da draußen existiert und was – ja, aus Kindermund! – emotional und nicht abgestanden verstanden sein möchte. Aber irgendwann, und das geschieht sehr bald, drängen sich uns Erwachsenen auch die peinlichen Lebenslügen auf, an die wir uns gewöhnt haben. Noch heute sehe ich das empörte Gesicht meiner damals vielleicht achtjährigen Tochter vor mir, die gerade einen Film über das qualvolle Verenden von Delphinen in Fischernetzen gesehen hatte: »Wie könnt ihr nur Fisch essen! Gerade ihr, meine Eltern!«

Die explorative Kraft ihrer Weltaugen macht gerade Kinder seelisch sehr verwundbar. Ich sehe eine Mutter mit ihrem Kind, beide mit Mundschutz bewehrt, durch die Straßen unserer Stadt laufen. Und ich stelle mir vor, was durch den kleinen Kopf geht: Vielleicht hat die Mutter dem Kind erklärt, man müsse die anderen vor Infektionen schützen. Die anderen? Vor mir? Aber ich bin doch gesund! Wie soll das Kind mit statistischen Wahrscheinlichkeiten umgehen, wenn sogar viele Jugendliche, die nachmittags im Stadtpark in Gruppen auf dem Gras liegen, dazu außerstande sind? Dann mal andersherum: Du musst dich vor den anderen schützen! Ja, sind die denn gefährlich für uns? Welch’ dunkler Raum öffnet sich da der Kinderseele, der sich füllt mit einem Krankheitstrauma, das in den Mitmenschen eine Quelle des Unheils sieht? In abgemildeterer dramatischer Abschattierung erlebe ich Ähnliches, wenn ich mich auf dem Wochenmarkt geduldig in eine Schlange einreihe und die maskierten Bürger betrachte, die in sich gekehrt den infektiösen Raum durchqueren. Das ist wohl übertrieben, aber doch richtig, sage ich mir dann und wäge damit persönliche Gefährdung und statistische Verlaufskurven ab, zwei Posten, die ich als erwachsener Mensch zu unterscheiden vermag, ohne mich dabei in einem nennenswerten Widerspruch zu verstolpern. Kleine Kinder aber, glaube ich, sind dazu nicht in der Lage, weil ihr Horizont der einer freundschaftlichen Welt ist. Zugegeben, sie kennen auch Feinde, die Raufbolde im Kindergarten etwa. Aber dann ist da wieder die Familie als bergender Raum.

»Traumtänzer, bürgerlicher!«, höre ich von der Seitenlinie. Wie stehe es mit den dysfunktionalen Familien? Siebzig Quadratmeter für vier Personen? Hochhaus, Plattenbau, und unten am Spielplatz flattern rotweiße Absperrbänder im Frühlingswind. Nachtseiten unserer Gesellschaft sind es seit jeher, doch nun, in Zeiten von Corona, wirft die härtere soziale Gangart längere Schatten im Zwielicht gesellschaftlicher Räume, die dem öffentlichen Blick entzogen sind.

»Leave no one behind« lesen wir derzeit an Häuserwänden und Stadtbrunnen. Viele zivilgesellschaftliche Organisationen haben mit diesem Aufruf zu internationaler Solidarität aufgefordert, so etwa die ›Seebrücke‹. Er gilt den Flüchtlingen in den griechischen Lagern ebenso wie den rassistischen Verhärtungen in den Gesellschaften des Westens. Er gilt allen Schwachen, ungeteilt und unabhängig von Geschlecht und Herkunft. Ich möchte ihn ganz besonders auf die Kinder richten, denn in ihren Seelen formatiert sich, wie unser aller Zukunft aussehen wird. Ob wir in Gesellschaften leben werden, die von einem gemeinschaftlichen Geist durchweht sind, oder ob wir uns schichten in Gewinner und Verlierer.