Seit einigen Tagen steigen die Fallzahlen merklich an, das Robert-Koch-Institut zeigt sich besorgt. Die täglichen Neuinfektionen nähern sich der Tausendermarke. Das Ausbruchsszenario hat sich verändert. Das Virus geht derzeit in die Fläche, es gibt viele kleinere Herde, es wird schwieriger, die Übertragungsketten nachzuverfolgen.
Der öffentliche Diskurs, so wie ich ihn mitbekomme, nimmt die Reiserückkehrer und die Partymacher in den Blick. Ein moralisierender Ton gewinnt an Höhe. Baden-Württembergs Regierungschef Winfried Kretschmann findet Auslandsreisen »unangemessen«: »In solchen Zeiten kann man einfach im Land bleiben und muss nicht in der Welt herumreisen«. Damit kein Missverständnis auftaucht: das kann man so denken, das kann man so machen, und viele Bürgerinnen und Bürger tun ebendies und stürmen die Alpen oder fluten die Ostseestrände. Nein, es ist des Landesvaters Kopfschütteln ob der Unvernünftigkeit seiner Landeskinder, das hier irritiert. Früher, ganz früher, gab es noch eine Kopfnuss dazu.
Um die Partymacher zu diskreditieren, braucht es keiner biederen Worte, hier rücken uns die visuellen Medien rechte Bild. Die Fotos von der Berliner Hasenheide oder vom Münchner Gärtnerplatz suggerieren eine dekadente Ego-Kultur, die sich nicht um das Gemeinwohl schert. Tanzen bis zum Abwinken, Alkohol und Drogen, das ›Erlebnis Ich‹ steche die Bereitschaft aus, gesellschaftlich Verantwortung zu übernehmen. Das ist gewiss nicht falsch – nur: das ist seit langem schon die Ratio der Wohlstandsgesellschaften. Auf den Partymeilen treibt sie ihre harmlosesten Blüten, weitaus schmerzhafter schneiden da die kreativen Geschäftsmodelle der Industrie und der Finanzwelt ins moralische Fleisch der Gesellschaften.
Es gilt, auch in den Zeiten schwerer Krisen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit nicht aus dem Blick zu verlieren. Die ersten größeren Demonstrationen gerieten sehr schnell in den Verdacht, Virenschleudern zu sein. An der Virenfront bestätigte sich das nicht, weder in Europa noch in Amerika. In den letzten Monaten haben wir viel über das Virus gelernt, über seinen verheerenden Zug durch die körperlichen und sozialen Leiber der Zivilisationen. In Indien reißt es andere Wunden auf als in Europa, aber weltweit gibt das SARS-CoV-2 Virus zu verstehen: Ihr werdet mich so schnell nicht wieder los, vielleicht trotze ich sogar euren Impfstoffen. Wir werden uns auf ein Leben mit dem neuartigen Virus einstellen müssen. Keine Gesellschaft ist so diszipliniert, als dass sich der Traum der Virologen und Epidemiologen realisieren ließe, das Virus könne in einem kleinen Rinnsal ausgetrocknet werden.
Es gibt zwar ein Recht auf gesunde Lebensumstände, nicht aber auf Gesundheit selbst. Sauberes Wasser, unbelastete Lebensmittel, reine Luft, ärztliche Versorgung, Schutz vor unzumutbarem Lärm und manches mehr sind Voraussetzungen für einen gesunden Lebensstil, den jeder führen können muss, so er oder sie sich dazu entscheiden sollte. Was aber hieße es, ein Recht auf Gesundheit zu reklamieren und es bei den Gerichten einzuklagen? Man könnte dabei an den Anspruch auf optimale medizinische Versorgung denken. Aber ein Recht auf Gesundheit meint mehr. Es begreift die Gesundheit als ein Rechtsgut, das von der Gesellschaft verlangt, sich mit allen verfügbaren Kräften gegen das natürliche Vorkommnis Krankheit zu wenden. Selbstredend ist das Recht auf Krankheit nicht gegen die Natur durchsetzbar, das würde medizinische Allmacht voraussetzen. Aber unterhalb dieser unüberwindbaren Schwelle bürdet es dem gesellschaftlichen Leben auf, alles Verfügbare aufzubieten, um Gesundheit garantieren zu können. Der Preis dafür wären harte Schnitte in die technischen und sozialen Prozesse. Risiken wären zu minimieren, wenn nicht gar zu eliminieren. Jeder Fortschritt hätte einen Gesundheitscheck zu passieren, was zum neuen Berufsstand der Gesundheitswächter führen würde. Sie würden sich alsbald als Gesundheitspolizei aufführen müssen, die in der Bevölkerung diejenigen verfolgen würde, die es lax mit ihrer Gesundheitspflege halten, denn schließlich bilden diese einen unerwünschten Kostenfaktor im Gesundheitsstaat. Das Recht auf Gesundheit verlangte uns ein Leben ab, das kaum mehr menschlich zu nennen wäre.
Zutiefst menschlich aber ist das expansive Leben. Über vier Corona-Monate hat sich ein Bedürfnis nach Körperlichkeit angestaut, das will nun gelebt werden, quer durch die Generationen hindurch. Man gibt sich beizeiten wieder mal die Hand oder umarmt sich bei Begegnung. Man sitzt mit Freunden und Bekannten wieder auf der Wiese und hält dabei die Abstandsregel nicht immer ein. Ja, mein Gott, es ist Sommer, wir wollen leben! Wer kann es den jungen Menschen verdenken, wenn sie den Augenblick auch einmal ohne den Gedanken an die Statistiken ergreifen? Ist es noch Vorsicht oder schon Angst, wenn wir in den Anderen potenzielle Virenträger sehen? Sollte etwa die Lust auf Leben mit dem Recht auf Gesundheit kollidieren?