Exit

Am 28. Januar 2020 trat in Bayern der erste Fall der Infektion in Deutschland auf, heute, am 2. April, schreiben wir also den 66. Tag der Corona-Krise in Deutschland. Wie das Virus nach Europa kam, darüber streiten sich die Experten bis heute. Damals jedenfalls, und auch noch bis in den März hinein, hat sich wohl kaum jemand ausmalen können, wie die Dinge heute stehen – die Virologen und Epidemiologen vielleicht einmal ausgenommen, auf ihnen liegt nun die politische Expertise. Es ist gut so, wenn die Politik ihre Handlungen auf wissenschaftliche Daten und Methoden abstützt. Ich würde mir das auch für die Klimapolitik wünschen.

Zur wissenschaftlichen Fundierung von Politik gehören neben den Virologen auch die Soziologen, die Ökonomen, die Psychologen und die Philosophen (als Experten in Fragen der Ethik). Im öffentlichen Diskurs der Zivilgesellschaft bringen sie sich seit ein paar Tagen immer stärker zu Gehör, das Konzert der Stimmen gewinnt an Volumen. Auch das ist gut so, denn der Wissenschaften gibt es viele, und selbst unter den Virologen gibt es Dissens und  Pluralität in den Positionen, zumindest dann, wenn es um die Einschätzung der epidemiologischen Maßnahmen geht.

Die Politik muss nach Möglichkeit das Ganze in den Blick nehmen: die politische Stabilität der Gesellschaft, die wirtschaftliche Lage von Unternehmen und Bürgern, die medizinische Versorgung, die Ernährung der Bevölkerung, die Transportwege und vieles mehr. Und bei allem drängt eines: die Zeit. Und sie drückt mit jedem Tag stärker auf die Systeme.

Deshalb ist es auch gut so, wenn die Öffentlichkeit zunehmend darauf drängt, eine Exit-Strategie zu entwickeln. Die Regierungen in Bund und Ländern erklären sie allerdings fast unisono für unerwünscht. Wie das? Erleben wir gerade eine schleichende Machtverschiebung auf die Exekutive hin? Das käme einem sanften Coup gleich. 95% der Bürgerinnen und Bürger billigen die Maßnahmen der Regierung, so viel Konsens ist schlichtweg verdächtig. Ist es bürgerschaftlicher Gemeinsinn? Dagegen sprechen die leeren Regale von Toilettenpapier und Nudeln. Da ist sich fast jeder doch der Nächste.  Nein, mir scheint der Anteil der Angst der entscheidende Faktor am Konsens und nicht die die gesellschaftliche Vernunft, die in offenen Gesellschaften niemals mit einer Stimme spricht. Gewiss, es sind Notzeiten, da reiht sich die Bevölkerung hinter die Regierung ein. Nichts gegen Bürgerdisziplin bei Kontaktverbot, aber es ist in einer Demokratie einfach guter Brauch, dass die Regierung ein Ohr hat für den öffentlichen Diskurs über Strategien eines langsamen Wiedereinstiegs in das wirtschaftliche Leben.

Bislang behindert die fatale Alternative Leben versus Wirtschaft die Debatte über das Wie eines Exits. Sie schwingt ihre Keule und bezichtigt die ›Exiteers‹ moralischer Defizite. Aber die Zweifel mehren sich, ob wir tatsächlich richtig mit der Krise umgehen. Was wäre, wenn sich später, in ein paar Wochen oder Monaten, zeigen sollte, dass wir die gesellschaftlichen Folgen der Pandemie falsch eingeschätzt haben? Dass wir plötzlich in einen Strudel von Insolvenzen hineingeraten sind, geschäftliche wie private, die in Folge dann das Finanzsystem ergriffen? Eine neue Eurokrise aufgrund des Zusammenbruchs ganzer Volkswirtschaften? Und was wäre, wenn es so käme, dann mit der epidemiologischen Einsicht, dass wir die Gefahren des Virus krass überschätzt hätten? In der Sendung von Markus Lanz vom 31. Januar brachte der Virologe Hendrik Streek vor, dass die Infektionsketten sich nicht über Einkäufe im Supermarkt, beim Friseur, im Hotel oder im Restaurant fortsetzen, und er berichtet von Abstrichen, die von Türklingen und Handys aus hochinfektiösen Haushalten im Kreis Heinsberg genommen wurden. Dort wurde nur ›totes‹, nicht ansteckendes Genmaterial von Covid-Viren nachgewiesen. Die großen Ausbrüche seien nachgewiesenermaßen über die großen Events – Fußballarenen, Karneval, Massenparties – erfolgt. Hat die Politik derzeit auf einen sachlich nicht begründeten Angstmodus umgeschaltet? Wenn dem so wäre, dann sollten wir uns alle tatsächlich große Sorgen machen.

Nun gibt es aber auch viele gute Argumente für die Selbstisolation der Bevölkerung. Sie sind überwiegend virologischer Natur und zielen darauf, Schaden von Leib und Leben abzuwehren. Es zeugt von einem hohen zivisatorischen Standard, wenn das Leben als höchstes Gut betrachtet wird. Als lebensbedrohlich sollten wir aber auch wirtschaftliche Insolvenzen betrachten, die Menschen in den Suizid treiben. Davon ist derzeit ja viel die Rede, ich brauche also nicht ins Detail zu gehen. Es sind viele Einzelschicksale, jedes ist anders gelagert, aber manchen, und das dürften nicht wenige sein, ist der Sauerstoffhahn der Zukunft abgedreht. Derzeit, so listet die Deutsche Krankenhausgesellschaft (DKG) auf, stehen von den 40.000 Intensivbetten etwa knapp die Hälfte noch leer. Das sieht in vielen anderen Ländern ganz anders aus, und die vergleichsweise niedrigen Todesraten bei uns sollen keineswegs unser Gesundheitssystems prämieren – eher zeigt das die desolate Situation der europäischen Südländer, die mit ihren knappen Haushalten noch stärker an der Gesundheit haben sparen müssen. Aber wir haben noch Luft, und die wäre jetzt in das Wirtschaftssystem zu blasen, nicht nur mit Finanzspritzen, sondern mit Perspektiven für einen Neuanfang.