Es entspricht wohl unserer heutigen Auffassung, Legalität mit Moralität nicht gleichzusetzen. Dabei folgen wir Immanuel Kant, der meinte, niemals könnten Gesetze des Rechts das unbedingte Sollen abbilden, das der Kategorische Imperativ vorschreibt. Das hat noch nicht viel mit der Corona-Pandemie zu tun. Mit G.W.F Hegel aber kommen wir ihr näher. Nein, nicht der Umstand ist dabei entscheidend, dass der artistischste Denker der Philosophiegeschichte im Jahr 1831 an der Cholera-Epidemie starb, die damals Europa heimsuchte. Eher ist es seine Staatsphilosophie, die gerade ein verhaltenes Comeback erfährt, und das weltweit.
Hegel hing nämlich der Vision an, die Zivilisationsgeschichte der Menschheit schreite über viele Steine hinweg zu einem Zustand, in dem die Kulturleistungen sich vernünftig vollenden. Von bloßer Meinung zu vollgültiger wissenschaftlicher Erkenntnis, vom religiösen Animismus zum geistvollen christlichen Gott, von der Barbarei der Sklavenhaltergesellschaften zum bürgerlichen Staat. Alles eine beeindruckende Geschichte des Fortschritts, in deren Verlauf die Vernunftvisionen der Philosophen schlussendlich verwirklicht werden in den Wissenschaften und in der Form des gemeinschaftlichen Lebens. Denn jede einzelne Person, meinte Hegel treffend, bedarf eines gesicherten Raumes wechselseitiger Anerkennung, um ihr Potenzial zu entfalten. Ja mehr noch, denn es sind ja die Personen selbst, die über die Generationenketten Rechts- und Organisationsräume etablieren, und in Vollendung gedacht – oder doch nur gehofft? – fällt das moralische Bewusstsein mit dem Rechtsstaat in Eins. »Der Staat ist die Wirklichkeit der sittlichen Idee«, heißt es im § 257 seiner Rechtsphilosophie.
Nun, das sind philosophische Konzepte. Nicht mehr, aber eben auch nicht weniger, denn in Krisenzeiten erweist sich tatsächlich, wie gesund und fest das moralische Skelett eines Staates ist, und wie viel Fleisch sein sittlicher Blutkreislauf am Leben erhalten kann. Sind es die großen Muskelstränge aus Airlines, Automobilindustrie und Warenhausketten? Oder auch die kleinen Körperglieder, die Gastwirte, die Friseure, die Imker, die Reitschulen? Die finanziell schmalbudgetierten Startups? Die Liste ist lang und zeigt uns die Gesichter unseres gesellschaftlichen Lebens. Der Staat greift augenblicklich vielen unter die Arme und verschuldet sich in schwindelerregender Höhe. Wir erleben, wie schon während der Finanzkrise vor einem Jahrzehnt, die starke Stunde des Staates auf der Bühne der handelnden Akteure. Damals stützte er die systemrelevanten Banken, heute dehnt er seine Verantwortlichkeit auch auf den Mittelstand, ja sogar auf die Einzelkämpfer aus.
Nun gestalten sich, zweihundert Jahre nach Hegels Staatsphilosophie, die Dinge grundlegend komplexer. Die Institutionen, auf die schon Hegel setzte, organisieren nicht mehr nur Bildungswesen, Gesundheit, Rechtspflege, Polizei und wirtschaftliche Korporationen, sie setzen auch Produktions- und Verteilungsstandards, formulieren und überwachen Gesundheits- und Sicherheitsnormen, regulieren Informationskanäle und schützen das Individuum in seinen Persönlichkeitsrechten in der digitalen Welt. Und da gewinnt ein Staat, der in Krisen die sozialen Notlagen bewältigt, an ethischer Statur. Gegenwärtig sprechen die Todeszahlen eine deutliche Sprache: Die Letalität der Epidemie ist in Deutschland, Österreich, Norwegen und der Schweiz heute um die Hälfte geringer als in den USA, in Spanien, Italien und Großbritannien beträgt sie gar das fünf- bis sechsfache. Gewiss, man muss die Aussagekraft der Zahlen vorsichtig bewerten, und zwar sowohl die Opfer- wie auch die Infektionszahlen, zudem werden sie übermorgen, wenn die Maxima in den betreffenden Ländern erreicht sind, wieder anders aussehen. Doch einen ersten Eindruck über die Funktionalität der Staaten, über ihr jeweiliges Governance, vermitteln sie durchaus, und so bestaunt die New York Times in mehreren Artikeln die »German Exception« (28.3. und 4.4.). Zum Vergleich stehen die neoliberalistisch organisierten Gemeinwesen Großbritanniens und der USA auf der einen Seite und der stärker auf das Gemeinwohl verpflichteten Gesellschaften Europas. Zum Vergleich stehen aber auch die Nord- und die Südländer Europas, und berücksichtigt werden müssen auch in einer globalen Bilanz die ökonomisch, fiskalisch und sozial ausgebluteten Regionen Afrikas, Südasiens und Lateinamerikas. Für solche Vergleiche stehen mehrere Indices bereit. Der Human Development Index berücksichtigt neben dem Pro-Kopf-Einkommen auch Faktoren wie Gesundheit, Lebenserwartung und Ausbildung. Die OECD führt einen internationalen Gerechtigkeitsindex, und seit 2006 gibt es einen Happy Planet Index, der die ökologische Effizienz bewertet, mit der die Nationalstaaten Wohlstand und Wohlbefinden ihrer Bürger bewirken.
Seit Hegels Tagen sind viele Organisationen und Institutionen entstanden, die mit alternativen Beurteilungskriterien den Puls der Menschheit messen. Die Ökonomen allerdings beschwören nach wie vor das BIP und dessen Wachstumskurve. Auf Punkt und Komma genau lassen sie ihre Luftbuchungen über die zu erwartende scharfe Rezession in diesem Jahr verlauten, und sie trösten uns mit einem mindestens ebenso steilen Aufschwung 2021. Die Krise könnte, ja sollte uns dagegen die Blick auf andere, innovativere, menschenfreundlichere Datensätze richten. Wer meint, man könne nach alten Rezepturen weiter kuren, der hat von der schwersten Weltkrise seit dem Zweiten Weltkrieg nichts begriffen.
Denn die nächste Großkrise ist schon unterwegs, langsam und schleichend seit mehreren Jahrzehnten, und ebenso lange schon ermahnen die Wissenschaftler erfolglos Politik und Gesellschaften. Sie berechnen uns die Kipppunkte des Klimas, die alles wieder ganz plötzlich entstehen lassen, so wie jetzt ein kleiner Virentransfers aus der Tierwelt die Zivilisationen aus ihrem Gleichgewicht geworfen haben. Heute muss die gesellschaftliche Vernunft über Hegels Vision vom ethischen Staat hinweg steigen zu einer ethischen Weltzivilisation.