In der Frühphase der Covid-Pandemie gingen die Niederlande, das Vereinigte Königreich und die USA einen anderen Weg als das kontinentale Europa. Man wollte über eine Herdenimmunität das Virus einzudämmen und schränkte das öffentliche Leben zunächst nicht ein. Dafür war man gegen den Rat der Epidemiologen auch bereit, eine erhöhte Zahl von Todesopfern in Kauf zu nehmen. Einige philosophisch versierte Kommentatoren deuteten diese Strategie als eine, die von utilitaristischer Ethik motiviert sei. Der Utilitarismus ist die herrschende ethische Doktrin der angelsächsischen Zivilisationen.
Mit dem Utilitarismus sind vor allem zwei Namen aus dem 18. und dem 19. Jahrhundert verbunden: Jeremy Bentham und John Stuart Mill. Seine Bezeichnung leitet sich vom Lateinischen utilitas = Nützlichkeit ab, und tatsächlich identifiziert der Utilitarismus über weite Strecken das Gute mit dem Nützlichen. Seit Bentham und Mill haben ihn andere Moralphilosophen beständig weiterentwickelt, haben an Korrekturen gefeilt, um seine Defizite auszubessern, die er offenkundig hat: Defizite an Gerechtigkeit, Defizite aber auch im Menschenbild. Sie gehen sofort auf, wenn man seine Grundformel betrachtet, die auf Bentham zurückgeht: politisches Handeln sei geleitet vom Prinzip des größten Glücks für die größte Anzahl von Bürgern. Das rechtfertigt Opfergänge der Wenigen für das Glück der Vielen. Tote für das blühende Leben. Allerdings hat selbst Bentham sehr schnell erkannt, dass eine Formel mit zwei qualitativ so verschiedenen Faktoren – Glücks- und Verbreitungsmaximierung – nicht zielführend sein kann, und auch spätere Utilitaristen haben weitere Mitspieler eingeführt wie Regeln und Präferenzen. Und so hat sich der Utilitarismus zu einem einflussreichen ethischen Konzept entwickelt, dessen Stärken in seiner Anschlussfähigkeit an politisches Handeln liegen.
Doch zurück zum angelsächsischen Sonderweg in der Frühphase der Epidemie: die kontinentalen europäischen Staaten haben relativ früh die freiheitlichen Grundrechte eingeschränkt. Dahinter stand und steht die ethische Grundüberzeugung, dass jeder Tote einer zu viel ist. Sie wurzelt tief in zwei ethischen Konzeptionen, die miteinander verbunden sind: in der christlichen Ethik der Nächstenliebe und in der Kantischen Ethik der Menschenwürde, die es verbietet, Leben gegen Leben quantitativ gegeneinander aufzurechnen. Der Mensch, so äußert Kant apodiktisch, sei keine Ware, sondern Zweck an sich selbst. Wirtschaft oder Leben, in dieser Alternative obsiegt das Leben.
Es dauerte nicht sehr lange, bis der anglo-amerikanische Sonderweg angesichts rapide steigender Infektions- und Todesraten aufgegeben wurde. Die britische, holländische und US-amerikanische Regierungen mussten vor dem Druck der öffentlichen Meinung kapitulieren und – bestärkt durch die nüchternen mathematischen Exponentialgleichungen – ihren Kurs ändern. Seitdem scheint die Weltgesellschaft mit wenigen Ausnahmen wie Südkorea und Schweden nur noch einen Weg zu präferieren: die radikale Einschränkung der Freiheitsrechte bei Hochschätzung des einzelnen Lebens. Das ist in Kenia nicht anders als in Indien oder Südafrika.
Die Weltgemeinschaft hat sich offenkundig für den Primat des Lebens über die Freiheit entschieden, allen kulturellen Unterschieden zum Trotz. Ob die Gesellschaften nun hinduistische, islamische, christliche oder welche weltanschauliche Grundierungen auch immer haben, in der Weltkrise ticken sie alle ähnlich und stellen den Wert des einzelnen Lebens über das gesellschaftliche Leben. Man muss, um die Eindrücklichkeit dieser transnationalen Einigkeit wirklich zu begreifen, von dürren Worten abheben und gleichsam im Drohnenflug über die großen Boulevards und Plätze der Weltstädte fliegen. Es ist, als ob die Menschheit verschwunden wäre. Ist all das nicht ein eindrücklicher Beweis dafür, dass sich die Weltgemeinschaft unisono einig ist über den Wert des Lebens?
Dieses Bild ist allerdings zu schön, um es bedenkenlos teilen zu können. Dagegen sprechen die blutigen Konflikte, weltweit werden für 2019 insgesamt 27 Kriege und bewaffnete Konflikte gezählt. Weshalb misst die Menschheit den Wert des Lebens mit doppeltem Maß?
Die Corona-Pandemie lässt die Bedrohung unterschiedslos für jeden Einzelnen spürbar werden. Die Kriege hingegen sind die der anderen. Das stimmt so zwar nicht, denn über unsere Interessen sind auch wir am Leid der anderen mitursächlich beteiligt. Aber es sind eben lange und unüberschaubare Ketten, die wir ausblenden können. Dagegen berühren die Bilder und Videos vom hektisch-verzweifelten Alltag einer Klinik in Bergamo oder New York unser moralisches Empfinden ganz unmittelbar. Wenn wir uns von dort die Ereignisse auf das Display unsrer Mobilgeräte schicken lassen, dann steckt darin zudem auch die Botschaft: »Das könnte uns ebenfalls bevorstehen«. Die Medien und die öffentliche Meinung machen uns covidoid, und weil in digitalen Zeiten jeder Empfänger auch zugleich ein Sender ist, erfährt die öffentliche Meinung eine ungeheure monothematische Dynamik, in der sich alles um Tod und Leben dreht. Sie treibt Regierungen und Bevölkerungen vor sich her, es ist ein mediales Geschehen, das die Menschheit moralisch einstimmig handeln lässt – wenn man vom Verteilungskampf von Masken und Schutzkleidung einmal absieht, der mit harten Bandagen geführt wird. Autoritäre Regierungen haben deshalb folgerichtig genau hier, am Hebel der Informationskanäle, angesetzt mit frisiertem Zahlenmaterial, um Panik in der Bevölkerung nicht aufkommen zu lassen. Denn Panik kann eine Gesellschaft aus den Angeln heben.
Das schöne Bild eines weltumspannenden moralischen Konsenses hat also einige Kratzer. Dennoch: Die tiefe Weltkrise lässt die Menschen moralisch näher zusammenrücken. Und wenn es gelingt, in Nach-Corona-Zeiten die Einsicht zu bewahren, dass wir das Virus nur durch gemeinschaftliches Handeln besiegt haben, dann könnte daraus eine neue Welt entstehen.