Erste Bilanz, zweiter Versuch

Vor einem halben Jahr hat sich der menschlichen Zivilisation ein Fenster geöffnet. Ja, so groß kann man es sagen, so emphatisch. Mit einem Mal war uns unser biologisches Leben das wichtigste Gut. Dafür hatte die Politik auf die Pausentaste gedrückt und der umtriebigen Menschheit weltweit einen ewigen Sonntag verordnet. Die Himmel wurden blauer, die Luft reiner, in den Kanälen Venedigs eroberten sich die Wassertiere ihre Lebensräume zurück, an den menschenverlassenen Stränden gediehen die Schildkrötenpopulationen, und in Paris spazierten Hirsche über die verwaisten Plätze. Da flatterte ganz plötzlich, auf der Höhe unserer zivilisatorischen Verwundbarkeit, eine Welt auf unsere Bildschirme, wie wir sie bislang noch nicht kannten. Sie spiegelte uns zurück, wie schwer krank unser gesellschaftliches und wirtschaftliches Leben ist.

Das Fenster, das sich uns vor einem halben Jahr öffnete, ließ darauf hoffen, dass unser zivilisatorisches Leben nicht unheilbar krank ist. So vieles schien plötzlich möglich: Transformation, Systemwandel, ein neuer menschheitsgeschichtlicher Anfang. Was uns wirklich wichtig sei, darüber debattierte die Gesellschaft in ihren öffentlichen Foren, es schien eine Stunde der Einsicht anzubrechen.

Plötzlich ging ein altes Wort auf neue Runde: systemrelevant. Wir kennen es aus der Finanzkrise 2008/09. Nun aber wurden andere damit beschenkt: die Pflegerinnen, die Kassiererin, der Lokführer, der Paketzusteller. Darüber ist viel geschrieben worden, doch gerade der Letztere ging der gesellschaftlichen Achtsamkeit durch die Lappen. Denn er, der atemlos die Stufen hinaufhetzt und dem Adressaten die Zalando-Amazon-Fracht übergibt, er zeigt in seiner Existenz alle Krankheitssymptome des global entfesselten Kapitalismus. Er ist ein fast arbeitsrechtloser Sklave, der sich für die großen Krisengewinnler die Hacken abläuft und für eine Versteppung der Innenstädte sorgt – in stiller Übereinkunft mit den Konsumenten, die es ihm aber nur selten mit einem Trinkgeld lohnen. Als kleines Flimmerhärchen eines rund um die Uhr atmenden, weltumspannenden Großorganismus kann er sich Krankheiten nur um den Preis einer Kündigung leisten. Seine Opferbereitschaft ist es, die ›das System‹ als Systemrelevanz prämiert, und damit steht er dann tatsächlich auf einer Stufe mit den anderen systemrelevanten Berufen – oder seien wir fairer und sagen: mit all denen, die nicht zum Homeoffice freigestellt waren, wovon es übrigens immer noch viele gibt. Aber mit solchen systemrelevanten Krankheiten sollte nun Schluss sein, darüber bestand eine lautstarke Einigkeit in jener ideologiestummen Stunde, als das Fenster der Hoffnung sich öffnete.

Da hieß es zunächst: Es solle keiner seine wirtschaftliche Existenz verlieren. Dann: Wir können nicht alle retten. Zwischendurch erklang auch mal das Lied von der systemrelevanten Kultur, aber das war doch eher ein Versprecher, geschenkt, ich möchte da nicht nachtragend sein. Nicht durchgehen lassen sollte man aber die signifikante Verschiebung der Systemrelevanz von klein zu groß, nämlich von den Lebensrettern zu den Schlüsselindustrien und –dienstleistungen. Die Liste führen an: Lufthansa (9 Milliarden), TUI (3 Mrd.), Adidas (3 Mrd.) und ThyssenKrupp (1 Mrd.), und laut ›Handelsblatt‹ stehen derzeit noch weitere 60 Unternehmen Schlange für den 600 Mrd. Euro schweren Wirtschaftsstabilisierungsfonds. Der soll ausdrücklich den großen Konzernen und großen Mittelständlern unter die Arme greifen, woraus zu folgern ist: die staatlichen Stützungsmaßnahmen werden zu einer weiteren Konzentration der wirtschaftlichen Akteure führen. Systemrelevant ist, wer groß ist. So war das schon immer, und man muss befürchten, dass sich das Fenster eines möglichen Wandels gerade wieder schließt.

Wir hätten dann eine große und bislang einmalige Chance verspielt. Was die brennenden Wälder Amazoniens, Australiens und Russlands nicht vermochten, worauf Fridays for Future vergeblich aufmerksam gemacht hatte, das ist in anderer Konfiguration für fast jeden Bürger dieses Planeten in existenzielle Nähe gerückt, wird gespürt am eigenen Leib und für die eigenen Nachkommen. Das Fenster stand offen.

Doch kann man die Politik dafür allein verantwortlich machen, dass wir auf dem Weg zurück sind in unser todkrankes System? Ich möchte den Politkapitäninnen und Kapitänen keinen bösen Willen unterstellen, als damals, vor ein paar Monaten, die Angst vor einem Weltuntergang die Runde machte. Auf dem Höhepunkt der Krise hat die europäische Politik eine gute Figur gemacht, sie reagierte entschieden und besonnen zugleich, dimmte ihren Politsprech ab und äußerte Betroffenheit und Sorge. Ich glaube sogar, dass der enge Schulterschluss von Politik und Wissenschaft die Eliten einsichtiger und vor allem handlungsbereiter hat werden lassen für grundlegende Transformationen. Doch es scheint nun doch wieder anders zu kommen, die Beharrungskräfte des alten Normal sind zu stark, die Geldmacht zu einflussreich, Politik und Wirtschaft zu eng verfilzt. Und auch die Bürger hängen über ihre Arbeitsplätze, ihre Kapitaleinlagen und Versicherungen mit in der großen Seilschaft. Es sind schlichtweg die Interessen, die ein äußerst stabiles, zerreißfestes Netz gebildet haben, in dem die schwachen Maschen eher aufgetrennt werden können als die dickeren Knoten.

Doch sind es gerade die scheinbar schwachen Maschen, die dem ganzen Netz seine Formfestigkeit verleihen. Das zu erkennen, dazu bedarf es des vernetzten Denkens. Und es beansprucht nicht viel an Scharfsinn um zu erkennen, dass die Kultur ebendiese Funktion in einer Gesellschaft ausübt. Die Kultur ist ein mentales Gesundheitssystem mit sozialpsychologischer Relevanz. Zwar wird sie individuell ›konsumiert‹, aber sie erarbeitet durch die Individuen einen gemeinschaftlichen Mehrwert – und das unterscheidet sie vom Partyspaß auf Mallorca. Die Kultur ist systemrelevant in einem humanitären Sinn. Doch der hat keinen monetären Eintrag in der Buchführung von Politik und Wirtschaft. Wohin das führen kann, zeigt uns gerade Trumps Amerika.

Die Kultur ist die große Verliererin der Krise. Zur Zeit stehen die Aktienindices schon wieder daumenbreit unter den Rekorden des Spätwinters.