Erste Bilanz, erster Versuch

Als Ende März die Ausgangsbeschränkungen auch in Deutschland verhängt wurden und es gespenstisch still wurde im Land, schloss ich mit K. eine Wette ab. Würde die Pandemie zu einer umfassenden Transformation des gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Lebens führen? Zu mehr sozialer Gerechtigkeit, zu mehr Klima- und Umweltpolitik? Zu einem neuen Gesellschaftsvertrag, der die gemeinschaftlichen Güter wie Gesundheit und Leben den Fängen des Gewinnstrebens entreißt? Zu größerer Fairness in den internationalen Beziehungen?

Die Zeit schien damals günstig, dies und vieles mehr zu erhoffen. Urplötzlich war die Menschheit entgleist und auf einen Rammbock namens SARS-CoV-19 geprallt. So gehe es nicht weiter, darüber waren sich damals fast alle einig, die sich in den Medien zu Wort meldeten. Dennoch hielt ich mit meiner Wette dagegen, weniger aus Pessimismus sondern eher, um etwas gegen K.s Optimismus zu setzen. Heute, viereinhalb Monate später, fürchte ich, dass K. ihre Wette verlieren wird. Und immer noch hoffe ich, die Flasche Kessler Rosé gehöre ihr.

Zugegeben, noch ist nicht aller Tage Abend. Noch sind wir verkatert und müssen uns zunächst noch darum bemühen, wieder ins Gleichgewicht zu kommen. Aber dennoch, denke ich, ist es Zeit für eine erste Bilanz, auf die Gefahr hin, dass die Zeitläufe mich Lügen strafen. Aber da befinde ich mich im Boot mit vielen, viel Unsinn ist in den letzten Wochen geredet, geschrieben und interviewt worden. Auch mein Corona-Tagebuch ist ja voll davon.

Als im März und April in den Hotspots die Kranken auf den Fluren der Hospitäler und in eilends errichteten Feldlazaretten versorgt werden mussten, als Ärzte und Krankenschwestern auf Pritschen am Arbeitsplatz übernachteten, um nach kurzen Schlaf wieder um das Leben der Patienten zu kämpfen, da gab es allabendlich öffentlichen Applaus von den Balkonen. Für einen Moment lang gab es öffentliche Empathie mit den Gesundheitsarbeitern. Die Kameras hielten in übermüdete und verzweifelte Gesichter, die von der Hölle auf Erden berichteten, von der schweren Entscheidung, die die Triage den Ärzten abverlangte. Einen Moment lang standen wir vor unseren Fernsehmonitoren mitten drin im Geschehen von Bergamo, Straßburg und New York. In diesem Moment trat die skandalöse Wahrheit ins Rampenlicht, dass der Gesellschaft der Gewinn aus Kapital, Aktien und Immobilien so viel wichtiger ist als die Arbeit von Menschen an Menschen. Kranken- und Altenpflege, Sozialarbeit und der gesamte Niedriglohnsektor vom Fernfahrer bis zur Kassiererin wurde plötzlich ›systemrelevant‹. Und heute? Haben sie ihr Ansehen und ihre Entlohnung verbessern können? Ja, es gab Boni, 1000 bis 1500 Euro Einmalzahlung, ich glaube, das war’s denn auch, und das auch nur für die Altenpflege. Wie schäbig – nein eine Transformation sieht anders aus.

Corona sei wie ein Brennglas, in dem die gesellschaftlichen Probleme vergrößert hervortreten. Die meisten davon sind bekannt seit Jahrzehnten. Nehmen wir, als zweiten Posten in meiner vorzeitigen Bilanz, die Fleischfabriken auf den Bauernhöfen und den Schlachthöfen. Als bei Tönnies das Virus sich durch die Belegschaft fraß, war der Aufschrei groß. Für die modernen Arbeitssklaven aus Osteuropa hat sich möglicherweise graduell etwas geändert, zumindest sollen die Werkverträge unterbunden werden. Die Schweine aber müssen weiterhin im Stehen Fleisch ansetzen, und die kleinen Ferkel werden weiterhin ohne Betäubung kastriert, damit uns ihr Fleisch besser schmecke. Am Landwirtschaftsministerium ist der Skandal spurlos vorübergegangen, sieht man von ein paar nichtssagenden Pressekonferenzen einmal ab, die das Mysterium Ministerium absolviert hat. Eine neue Stallverordnung? Ja, mit jahrelangen Übergangsfristen. Vor einigen Jahren schrieb Peter Sloterdijk einmal, im langen Lauf der Menschheitsgeschichte habe sich die Lage der Menschen stets verbessert, das Los der Tiere habe sich dagegen kontinuierlich verschlechtert.

Manchmal sind es Sätze wie diese, die tief beschämen. Der passende Ort, an dem sie prangen müssten, wäre nicht ein Corona-Tagebuch, sondern das Portal des Landwirtschaftsministeriums.