Immer sind es einzelne Schicksale, die in den Mahlstrom der Kriege geraten. Dort kreisen sie unbeachtet von der Weltöffentlichkeit, von Damaskus über Kobane, Istanbul, Heidelberg und Vancouver. Vor und zurück. So wie die Familie des zweijährigen Aylan Kurdi etwa, der im September 2015 tot an einen türkischen Strand gespült wurde. Damals machte ein einziges Foto Weltpolitik. Heute, viereinhalb Monate danach, dreht sich die Stimmung erneut. Vor und zurück, der Gang der Welt. Im Januar 2016 warf das ZEIT-Magazin einen tiefen, anrührenden Blick in das Schicksal dieser Familie und berichtete ausführlich über die Verzweiflung und die Demütigungen, aber auch über die kleinen Gesten der Hoffnung. Die Familie Kurdi – ein Schicksal unter Hunderttausenden.
Es ist schwierig, gerade etwas „belastbar Sinnvolles“ zur Weltkrise Nummer Eins zu sagen: zum Zusammenbruch der islamischen Zivilisationen in weiten Teilen der Welt – mit dem daraus resultierendem Exodus von Abermillionen Flüchtlingen. Die Zeit eilt über die Ereignisse hinweg und ist dem Begreifen stets schon einen Schritt voraus.
Doch bevor das weltpolitische Drama in den nächsten Akt stolpert: den Zivilgesellschaften mit ihren unzähligen Helfern in der Krise gebührt die allerhöchste Anerkennung. Wenn Verantwortung gelebt wird, dann dort. Und ausdrücklich möchte ich all diejenigen mit einbeziehen, die ihre Arbeit vor Ort erledigen: Polizisten, Ärzte und betreuendes Personal, die Schiffsbesatzungen auf den Fregatten, aber auch Landräte, Bürgermeister und die vielen Namenlosen, die an den Stränden der Ägäis, an den Grenzposten der Balkanstaaten freiwillige Arbeit leisten. Und viele andere mehr. Wir würdigen sie viel zu selten, weil unsere Wahrnehmung medial kontaminiert wird durch das beschämende Geschwätz vieler Politiker, die sich in stets neuen Vorschlägen ergehen oder die ihre ermahnenden Finger auf andere richten. Unerträglich sind mir die Polit-Talkshows mit den immergleichen Phrasen!
Man erwarte keine großen Lösungen von den Philosophen. Vielleicht ist es an der Zeit, einfach einmal innezuhalten und sich die eigene Ratlosigkeit einzugestehen. Ja, ich kann beide Seiten verstehen – wir schaffen das, und wir schaffen das nicht. Sympathisch ist mir das Erstere, realistisch, fürchte ich, ist das Letztere. Und dieser Riss geht durch meine Person, er trennt die Bürger unseres Landes in zwei Lager und er spaltet Europa, er polarisiert die Zivilgesellschaften der Welt. Das moralisch Richtige und das politisch Richtige driften auseinander. Gewiss, das war wohl immer schon so. Aber jetzt bedroht der Dissens von Politik und Moral unsere europäische Identität. Oder – ist auch das wieder nur ein einseitiges Urteil?
Es sind harte Pillen, die wir zurzeit schlucken müssen. Jahrzehnte waren die Krisen immer nur die der anderen. Mit Scheckbuch-Diplomatie konnten wir uns stets freikaufen und unsere Westen weißeln. Doch jetzt sind wir plötzlich in der Wirklichkeit angekommen. Und in der politischen Sphäre gibt es keinen archimedischen Punkt, von dem aus die Realitäten zu modeln wären.
Und was wäre mit der Vernunft? Sie klagt das immense Gerechtigkeitsdefizit in den Gesellschaften an und ruft nach einem gigantischen Welt-Marshall-Plan. Sie deckt die strukturelle Gewalt im Wirtschaftsmodell auf. Sie legt das Verführungspotenzial der global zirkulierenden Bilderwelt bloß und zeigt auf, welche zerstörerische Kraft davon ausgeht, für Gemeinschaften wie für Individuen. Seit Jahrzehnten warnt die Vernunft davor, dass die freiheitlichen Zivilisationen an ihren eigenen Widersprüchen ersticken werden und ihren Fundamentalwert Freiheit preisgeben müssen, um zu überleben. All das ist wichtig und richtig. Die große Stärke der Vernunft ist ihr Weitblick. Aber das ist auch ihre Schwäche, denn damit läuft sie in zu großen Schuhen. Und stolpert über die vielen Zäune, die nationale Egoismen gezogen haben. Stolpert aber auch über die mentalen Abgründe, die sich ihr auftun in den Gesichtern der maghrebinischen Jungmänner am Silvesterabend. Über die Gerüchteküche von Pegida. Über das krumme Holz, aus dem der Mensch gezimmert ist.
Vielleicht ist es Zeit, philosophisch einmal innezuhalten und sich zu fragen: macht es sich die Vernunft zu einfach, in jedem Anderen ein Du zu sehen? Die Frage zielt tiefer als auf bislang praktizierte Abgrenzungen zu kulturellen Praktiken, die uns menschenverachtend scheinen. Sie zielt auf den Traum des abendländischen Universalismus, kleine Einheiten zu immer größeren zu verschmelzen, den Bürger zum Weltbürger etwa, die nationale, partikulare Gesellschaft zur Zivilgesellschaft, die über universale Werte mit anderen Zivilgesellschaften verbunden ist. Die humanitäre Krise wächst sich aus zur Krise des abendländischen Universalismus. Doch was hat das alles mit dem kleinen Aylan zu tun, der tot am Strand liegt? Ein gerade erst begonnenes Leben, scheinbar schlafend in kindlicher Unschuld und im Vertrauen auf elterlichen Schutz, würde nicht der Kopf umspült vom Wasser des Meeres, wären nicht Haare und Kleidung nass und der Körper erkaltet.
Die Wunde schmerzt. Ich kann sie nicht heilen.