Liebe Leserin, lieber Leser,
Seit der Publikation der »Grenzen des Wachstums« (Denis Meadows/Club of Rome) im Jahr 1972 haben viele Staaten umweltpolitische Maßnahmen in Gesetzen verankert. Doch den fortschreitenden Trend zur Kontamination der Umweltmedien (Wasser, Luft und Böden) wie auch zum großen Artensterben haben sie nicht umkehren können. Die Gründe dafür sind bekannt. Auch die Hoffnungen, es könnten freiwillige Selbstverpflichtungen der Industrie, des Handels und des Konsums eine Trendumkehr bewirken, haben sich als substanzlos erwiesen. Gegenwärtig setzen die Politik und die Wirtschaft auf smarte Technologien, mit denen der Verbrauch an natürlichen Ressourcen reduziert werden soll. Doch bislang hat sich jeder technische Fortschritt als energiehungrig erwiesen.
Angesichts aller bisherigen weitgehend erfolglosen umweltpolitischen Strategien liegt es nahe, das Grundparadigma unseres Naturbewirtschaftens einer kritischen Revision zu unterziehen. Spätestens seit der Renaissance, also vor einem halben Jahrtausend, ist die Physik zur dominierenden Leitwissenschaft aufgestiegen, heute greift die Biologie mit ihren verschiedenen Spielarten (Evolutionsbiologie, Genetik, Bioinformatik) in die Speichen der Naturwissenschaft. Sie betrachtet die Natur als Objekt, dessen Funktionsweise man erforscht, um sie eigenen Zwecken nutzbar zu machen. Der Weg von einer Natur-als-Objekt zu einer Natur-als-Ressource ist kurz, er folgt einer Logik, an deren Ende eine Herrschaftsgeste steht, die ganze Landschaften umpflügt auf der Suche nach Braunkohle, Ölsand oder Lithium. Intuitiv spürt man das Unrecht, das dem verkohlten Wald Amazoniens angetan wird. An dieses Unrechtsgefühl knüpft ein innovativer Ansatz an: die Rechte der Natur.
Kulturgeschichtlich muss es die speziezistischen westlichen Zivilisationen beschämen, wenn die Initiative, der Natur Rechte zu verleihen, aus den indigenen Andenkulturen stammt. Dort erkämpften die Indigenen in einer juristischen Auseinandersetzung mit den Ölkonzernen Chevron-Texaco und Compañía General de Combustibles die Rechte der Natur. Seit 2008 genießt die Natur einen subjektiven Rechtsstatus in der ecuadorianischen Verfassung, Bolivien folgte auf etwas niederem Rechtsniveau ein Jahr später.
Die Rechte der Natur werden das menschliche Selbstverständnis nachhaltig verändern. Indem die Natur zum Rechtssubjekt erklärt wird, weiten die Zivilisationen den Radius des Rechts von Personen und Personengesellschaften auf Tiere, Pflanzen, Gewässer, Landschaften und die Atmosphäre aus. Aus Gütern, denen bislang nur ein Schutzstatus zukam, werden nichtmenschliche Rechtssubjekte mit sittlichem Eigenwert. Künftig kommt nicht nur dem Menschen eine Würde zu, sondern auch der Natur in all ihren Spielarten. Die Menschheit lebt mit den Rechten der Natur in einem erweiterten ethischen Kontext, die Demokratie entwickelt sich zur Biokratie. In dieser Vision liegt die größte Chance der gegenwärtigen Naturkrise.
Verfassungsrechtlich wurden die Menschenrechte in der französischen und amerikanischen Verfassung erstmals formuliert am Ende des 18. Jahrhunderts. Menschenrechte fußen auf dem sehr viel älteren, in antike Zivilisationen zurückweisenden Konzept der Menschenwürde. Kulturgeschichtlich führt also der Weg von der Ethik zum Recht. In der aktuellen Naturkrise oder, in den Worten Ernst Ulrich von Weizsäckers: in der »vollen Welt« bleibt dem Diskurs der Zivilisationen nicht dieser Luxus an Zeit. Das Artensterben und die Klimakrise haben dafür eine zu starke Dynamik. Es bleibt der Menschheit nur noch die Alternative von Ökodiktatur oder den Rechten der Natur. Eine Ökodikatur basiert auf Zwang und auf der Einschränkung von Freiheit – einer Freiheit allerdings, die im Speziezismus verharrt und die sich weigert, sich in der »vollen Welt« zu orientieren. Deshalb muss sie in einer Ökodiktatur unter Kuratel gestellt werden. Gesellschaftlich und psychologisch steht die Akzeptanz für eine Ökodiktatur allerdings äußerst schlecht, Freuds »Unbehagen in der Kultur« gewönne einen neuen Nährstoff für gesellschaftliche Friktionen, deren Ausmaß nicht abzusehen ist. Vielversprechender ist die Implementierung der Rechte der Natur, denn sie öffnet der Menschheit die Tür zu einem neuen, erweiterten Freiheitsbegriff. Nicht der Verzicht steht auf der Agenda, sondern die Erweiterung des Lebensraums.
Klimapolitisch und artenschützend steht die Menschheit unter enormen Druck, ihre Naturbewirtschaftung schnellstmöglich zu transformieren. Die Rechte der Natur dulden keinen weiteren Aufschub, es steht uns nicht mehr frei, die notwendigen Entscheidungen zu vertagen. Die Natur diktiert uns die Agenda des Handelns. Das, dieses Diktat der Natur, mag man als Fremdbestimmung interpretieren. Allein, das wäre altes Denken, das sich immer noch zum Herrn der Natur erklärt. Sinnvoller wäre es, das Diktat der Zeit, das die Natur über die Menschheit verhängt, als den Preis für die Verantwortungslosigkeit des Handelns zu begreifen und zu akzeptieren, den die Menschheit nun zu zahlen hat. Es ist auch das Eingeständnis, dass die Natur stärker ist als wir und dass es Unvernunft bekundet, solches speziezistisch ignorieren zu wollen.
Der Natur Rechte zu gewähren, wäre demnach eine längst überfällige Justierung unseres Verhaltens zur Sphäre der Natur. Es stimmt bedenklich, dass die Menschheit an solche Trivialitäten erinnert werden muss. Weniger trivial dagegen sind die Konsequenzen, die sich ergeben, wenn der Natur ihr Eigenrecht weiterhin verweigert wird. Wenn in nicht allzu ferner Zukunft die Ökosysteme kollabieren, wenn große Landstriche unbewohnbar werden, dann tritt die menschliche Zivilisation in die Epoche der Überlebenskämpfe ein. Dann werden wir alles verlieren, was die Kulturen in Jahrtausenden aufgebaut haben. Mit den Rechten der Natur steht oder fällt auch die internationale Rechtsordnung der Staatengemeinschaft, unser zivilisatorisch höchstes Gut.