Als ich vielleicht 14 oder 15 Jahre alt war, begannen in meiner Schulklasse die ersten politischen Diskussionen mit den Lehrern. Ich erinnere mich noch genau, wie ich den einzelnen Argumenten folgte, die hin und her kreuzten. Hatte die eine geredet, dachte ich: Ja, das ist richtig. Kam dann der Gegeneinwand, sagte ich mir im Stillen: Ja, das überzeugt mich ebenfalls. Und vor allem blendete mich das stolze Selbstverständnis der Lautstarken, eine ›eigene Meinung‹ zu haben. Und jetzt sehe ich sie wieder, unsere Klassenlautsprecherin, wie sie dem Gemeinschaftskundelehrer ebendies zu verstehen gab in einer Mischung aus Überheblichkeit und Spott, um sich auf Augenhöhe zum Pädagogen zu stemmen. Eine eigene Meinung, das klang nach Reife, nach Ernstgenommen-Werden in der Welt der Erwachsenen, und eben diese eigene Meinung, die vermisste ich damals an mir. Ich war immer ein Spätentwickler, nicht nur in Liebesdingen, sondern eben auch im argumentativen Standing in der Welt.
Es ist gewiss kein Zufall, dass ich mich in pandemischen Zeiten an diese frühen Jahre erinnere. Denn die Situation ist ähnlich. Damals schaukelte ich von hier nach dort, weil ich orientierungslos im politischen Diskursfeld trieb und der Wunsch, eine ›eigene Meinung‹ zu haben, noch keine sachkundigen Wurzeln getrieben hatte. Das Feld war unübersichtlich, und ebendies begegnet mir auch heute, wenn ich eine ›eigene Meinung‹ zu den gesellschaftlichen und ethischen Auswirkungen der Krise äußern oder wenn ich gar politische Entscheidungen kommentieren möchte. Gleichwohl, es bleibt ein fundamentaler Unterschied zwischen gestern und heute: Damals in jungen Jahren; konnte man argumentativ hineinwachsen in das komplexe Weltgeflecht, heute dagegen enteilen mir die Ereignisse und schon morgen sieht alles anders aus – Infektions- und Todeszahlen, neue Studien zu gesellschaftlichen Prozessen, nicht selten im Konflikt zu Gegenstudien, Blicke auf das Geschehen in anderen Ländern, das nervöse Auf und Ab, das je nach Beleuchtung sich anders darstellt.
Irgendwie, so dämmert mir, hält das menschliche Urteilsvermögen nicht Schritt mit der Beschleunigung der Zeitläufte. Das Denken, will es zu Urteilen reifen, benötigt anscheinend mehr Zeit als das Karussell der Ereignisse. In ebenderselben Zeitspanne, in der das Denken die Informationen sortiert und sie mit seinen starken Überzeugungen und Werten abgleicht, haben sich schon neue Daten entwickelt. Die Welt hat als Ganze einen Ruck gemacht und die Zeiger der Weltuhr streichen schon über eine andere Gegenwart hinweg – und damit über eine neue Wirklichkeit. »Die Eule der Minerva beginnt erst mit der einbrechenden Dämmerung ihren Flug«, schrieb Hegel in der Vorrede zu seiner Rechtsphilosophie, womit er sagen wollte: Die Stunde der Philosophie schlägt erst am Abend, wenn von dort auf den Tag zurückgeblickt werden kann. Niemals aber könne sie zukünftige Welt und Wirklichkeit ins Auge fassen, die Philosophie verfüge über keinerlei prognostische Kraft. Unbefriedigend? Søren Kierkegaard, der dänische schwerblütige Religionsphilosoph, folgte Hegel denn auch nur halbherzig und setzte dessen ›unsterblichen Satz‹ auf das Gleis vitalen Lebens: »Es ist ganz wahr, was die Philosophie sagt, dass das Leben rückwärts verstanden werden muss. Aber darüber vergisst man den andern Satz, dass vorwärts gelebt werden muss.«
Vorwärts zu leben, das beutet auch, sich ins Unbekannte zu bewegen. Sich zum Unbekannten zu bekennen, gilt dem philosophischen Bewusstsein seit jeher als Quell menschlicher Freiheit. Was wäre das Leben wert, gäbe es für uns nicht die Zonen der Unverfügbarkeit, die in gläubigeren Zeiten dem Willen und dem Wissen eines Gottes anheimgestellt wurde? Heute dagegen beherrscht die Menschheit das mathematische Geheimnis der Reihenberechnung, mit der von verlässlichen Daten aus auf die pandemischen Verläufe geschlossen werden kann. Mathematisch, so scheint es, ließe sich das Infektionsgeschehen konturenscharf berechnen – gäbe es da nicht das menschliche Verhalten, das trotz ausgeklügeltster Algorithmen nicht wirklich in die Modelle eingepreist werden kann. Das Leben entzieht sich immer wieder der Kontrolle, flüchtet in private Räume oder bleibt undiszipliniert trotz Ordnungsgeld. Unvernünftig sei solches Verhalten, ja verantwortungslos, und an diesem Urteil wäre kaum zu rütteln, gäbe es da nicht den Verdacht, dass vernünftig heißt, sich den Gleichungen der Mathematik zu unterwerfen. Gewiss: es geht um Menschenleben, und jeder einzelne Tod streut Leid tief hinein in die Familien. Es geht um den Kampf der Ärzte auf den Intensivstationen, um Doppelschichten der Pflegekräfte, es geht um die Corona-Generation in Schule und Hochschule, und es geht auch um die vielfachen Tode derjenigen Wirtschaftszweige, die im Lockdown mit Berufsverboten belegt sind. Die Liste der Opfer ist lang, und da klingt es zynisch, den Verdacht zu äußern, die derzeit allseits angeratene Vernunft käme einer mathematischen Ordnungsmacht gleich. Nichts als ein philosophisches Sandkastenspiel, frivol und eben unverantwortlich?
Wieder stehe ich mit einem Bein im Klassenzimmer von damals. Was ist richtig und was ist falsch? Für den Freiraum individueller Präferenzen haben die westlichen Gesellschaften einen immens hohen Preis bezahlt. Das autoritäre Regime Chinas hat das Virus unter Kontrolle, und nicht wenigen Kommentatoren erscheint das Reich der Mitte als der große Gewinner der schwersten Weltkrise seit dem letzten Weltkrieg. Das fein verästelte, tief in das private Leben eindringende Tracking aller Bewegungen der Untertanen-Bürger ist der größte Kotau vor der mathematischen Vernunft. Das kann uns, das muss uns schrecken. Allein, die demokratische Antwort scheint derzeit, nach sechs Wochen Lockdown light nicht sehr erfolgreich. Was ist richtig, was ist falsch?
Die Eule der Minerva, sie beginnt erst zur Abenddämmerung ihren Flug.