Von Brüssel ging gestern ein Erdbeben aus. Eine Revolution, vielleicht auch nur deren Ankündigung. Ursula von der Leyen verkündete mit flammender Stimme das 750-Milliarden-Paket des EU-Konjunkturprogramms. Gemeinschaftshaftung und überwiegend nicht rückzahlbare Hilfen für den Süden. Ein Coup ereignet sich gerade, ein Coup von oben, der Europa umkrempeln wird, eine Palastrevolution neuen Stils, denn die Putschisten wissen sich in Übereinstimmung mit den wissenschaftlichen Experten: den Ökonomen, den Politologen, den Wahlforschern.
Endlich! Und der finanzielle Schub kommt nicht allein daher, weitere 500 Milliarden haben Deutschland und Frankreich vereinbart, ebenfalls Hilfen und die Finanzierung nahe an der Transferunion. Europa kämpft mit seinem Überleben, so ernst scheint also dann doch die Lage zu sein. Aus dem Lager der Sparsamen, dem Club der reichen Nordländer, hat sich Deutschland abrupt entfernt. Ursula von der Leyen hat ihre Segel aufgespannt, um vom Wind der Geschichte getrieben, die Gunst der Stunde nutzend, der Gemeinschaft eine neue Identität zu geben. Wenn ihr davon nur die Hälfte gelingen sollte, dann wird sie als eine große Europäerin erinnert werden.
Es war die Union, die diesen Kurswechsel vollzogen hat nach Jahren des Sträubens. Coronabonds und gemeinsame Anleihen waren der Kanzlerpartei stets ein rotes Tuch. Es muss derzeit also um Sein und Nichtsein gehen, wenn das plötzliche Stühlerücken um den gemeinsamen Tisch alte Denkblockaden überwindet, wenn Privilegien aufgegeben werden. Die Wirtschaftsökonomen haben mehrfach ja schon vorgerechnet, welche Milliardenprivilegien den Nordländern aus Euro und Schengen erwachsen sind in den letzten Jahren. Jetzt, endlich! zahlen wir zurück. Und bauen damit ein neues Europa.
Gewiss, die Pläne müssen noch durch die Parlamente, Kompromisse werden am Volumen noch zehren, aber das Momentum der Geschichte liegt bei den Akteuren. Ein flottes Label – nichts geht über ein gelungenes Framing – steht auch schon bereit, frisch und luftig: ›Next Generation EU‹ heißt der gewaltige Ruck, der durch Europa gehen soll. Die Rede von einem Neuaufbau weckt nostalgische Erinnerungen an den Wirtschaftsaufschwung nach dem Zweiten Weltkrieg. Europa 2.0., geeinter, solidarischer, weitschauender. Grüner auch und fairer, das Momentum der Geschichte privilegiert das Teilen und fordert den Reichen Sonderabgaben ab, Vermögenssteuern sollten wieder eingeführt und eine einmalige Vermögensabgabe von denen gefordert werden, die ohne Verluste durch die Krise gekommen sind. Das alles muss klug bedacht und sorgfältig mit der nötigen Expertise ausgeführt werden, damit die Gelder dort ankommen, wo sie sinnvoll und das heißt: nachhaltig und resilient angelegt sein wollen.
Dazu bedarf es flankierend eines neuen Gesellschaftsvertrages, der Zukunft über Gegenwart stellt. Denn wir setzen nun alles riskant auf eine Karte, auf die Karte der Zukunftsfähigkeit. Selten war so viel Lust auf Aufbruch. Ein neues Wirtschaftsmodell könnte den kurzatmigen Konsum bepreisen, der zu schnell in der Abfalltonne landet. Wir könnten Dividenden der Vernunft einstreichen, wenn es gelingen sollte, Europa in einen Kontinent von Zukunftstechnologien zu transformieren, mit einer natursorgsameren Landwirtschaft und einer wertorientierten Marktwirtschaft. Und nicht zuletzt müssen die Proportionen von Kapital und Arbeit korrigiert werden, damit die Finanzoligarchie nicht länger die Realwirtschaft in den Schatten stellt oder gar – wie während der Finanzkrise 2008/09, stranguliert. Denn Arbeit, sinnerfüllende Arbeit dient dem Leben, das können weder Aktien noch Derivate.
Es ereignen sich politische Veränderungen, die im vorcoronaren, verkrusteten Europa kaum denkbar schienen. Europa bewegt sich, selten war es so schön, so erfüllend und erhebend, dazu zu gehören. Von Europa könnte ein Impuls ausgehen in die Welt, eine Vision, ein Vorschlag, ein Modell. Die ethische Meinungsführerschaft für ein zivilgesellschaftliches Morgen, sie könnte von Europa ausgehen. Wir müssen uns nur zukunftskompetent bewegen.