Heute ist der 90. Tag seit dem ersten Covid-19-Ausbruch in Bayern. Seit vier, fünf Wochen steht die Welt still, so jedenfalls empfinden es die Bürgerinnen und Bürger in Europa, und bald darauf folgte die gesamte Welt. Die Bilder aus den norditalienischen Hospitälern waren ein Menetekel, ja ein Armageddon, ein kleiner Weltuntergang im Video-Format.
Die Staaten verordneten ihren Bürgerschaften ein Bewegungsverbot. Alles bleibe von nun an hier an diesem Ort, das ist Dekret, und zwar weltweit. Geschichtlich sicher einmalig, das hat es nie zuvor gegeben. Die Staaten verordneten ihren Bürgerschaften ein Raumverbot. Der öffentliche Raum wurde abgesperrt, um die Verbreitungschancen der Viren zu minimieren. Das gesellschaftliche Leben wurde heruntergefahren, und dafür mussten die Staaten, und sie müssen es weiterhin, da ist noch gar kein Ende absehbar, die Staaten also stehen in einer Bringschuld. Sie müssen die Krise meistern, irgendwie, sie müssen Hoffnungen wecken und sogar ein Versprechen abgeben.
In Zeiten wie diesen scheint es mir ratsam, sich dankbar daran zu erinnern, dass man eine Bürgerin oder Bürger von Europa ist. Und in Europa selbst liegt die Zone der fürsorglichen Staaten eher im leistungsstarken Norden, und so spreche ich, nur für mich, einen Dank aus: In einer welthistorisch bislang einmaligen Stunde hat die deutsche Regierung sehr viel an Verantwortungsbereitschaft gezeigt. Mit breitem Gießkannenstrahl ergießen sich die Euromilliarden über die Gesellschaft, wirtschaftliche Insolvenzen sollen vermieden werden, möglichst unversehrt soll alles aus der Krise hervorgehen. Dafür hat sich die Gesellschaft sehr zivilisiert, nein besser: sehr diszipliniert gezeigt. Aber die Disziplin wird ja getragen von einem sehr tiefen Einverständnis, das die Zivilgesellschaften Europas mit ihrem Staat haben. Und der Staat zeigte sich sehr schnell im Handeln. Wer das bezweifelt, schaue nach England und Amerika, von Indien und Südafrika mal ganz abgesehen: Wir leben in einem intakten Gemeinwesen.
Mein Dank geht auch an diese Gesellschaft, die so viele bunte Strähnen im Haar trägt, und die dann zu einem gemeinsamen Willen fähig ist. Zu beiden – Staat wie Gesellschaft – hatte ich als junger Student mit Anfang Zwanzig ein eher gespanntes, wenn nicht sogar gleichgültiges Verhältnis. Ich hielt es mit einem Zitat, das Robert Musil seinem Romanhelden Ulrich in den Mund legte und das in etwa lautete: Er, Ulrich, erhebe in einem Staat den Anspruch auf freundliche Behandlung, genauso wie in jeder Concierge eines Hotels. Und ja, das passte für mich zum schmalen Handtuch, den die alte Bundesrepublik in die Geographie Europas zeichnete. Ein schmales Handtuch mit einer Verwaltungshauptstadt am Rhein. Als ich in Indien lebte, änderte sich mein Verhältnis zum Staat. Ich lernte den immensen kulturellen Wert unseres deutschen Rechtsstaates schätzen, vorbei war das mit dem Handtuch. Staat, Gesellschaft und öffentliche Meinung machen ein feines Gewebe, und in der Krise rücken die gesellschaftlichen Kräfte zusammen, man ist sachorientiert, die Fakten wiegen schwerer als das Parteiengezänk. Wer das bezweifelt, schaue auf Brasilien, die USA, auf das Vereinigte Königreich Großbritannien, auf Ungarn. Uns zeichnet ein starker Gemeinsinn aus, wer hätte das gedacht nach all den Skandalen, die sich die politische und wirtschaftliche Elite geleistet hat in den letzten Jahren. An diesen Gemeinsinn geht mein Dank.
Der Gemeinsinn ist das stärkere soziale Band als der Patriotismus. Der Patriotismus versagt in der Krise, sein Vokabular zu abstrakt, zu gemeinsprüchig, zu hohl. Keine starken Sprüche helfen in einer solchen Weltkrise, es braucht Expertenwissen und eine Politik, die darauf hört. Keine Pressekonferenz des Weißen Hauses schüchtert das Virus ein, die Dinge werden vor Ort entschieden, da, wo das Virus wütet. In der Verantwortungsgemeinschaft der Bürger und ihrer Institutionen, in einer intakten Gesellschaft mit einem übergreifenden Konsens. Gemeinsinn ist integrativ, Patriotismus dagegen setzt auf Ab- und Ausgrenzung. Und weil ein Virus sich nicht entlang ideologischer Grenzen bewegt, wird bei einer Pandemie die patriotische Waffe stumpf.
Trumps Amerika (das keineswegs Amerika ausmacht) oder Bolsonaros Brasilien (das ebenfalls nur eine häßliche Karikatur der Macht ist) machen uns vor, was auch möglich wäre. Wir können dankbar sein, das uns ein solches Elend erspart bleibt.
Das entlastet uns aber nicht davon, den Gemeinsinn zu pflegen. Im Gegenteil: nur wenn es uns gelingt, uns lautstark einzubringen, um unser gesellschaftliches Leben einer grundlegenden Revision zu unterziehen, nur dann bleibt der Gemeinsinn lebendig. Doch davon nächstens mehr.