Der Druck des Virus lockert sich gerade ein wenig. Zwar ist es noch überall und nirgends, das ist seine Art, zu existieren, aber dennoch: Eine erste Entspannung. Das Fernsehen zeigt Jogger an der Seine und in Madrid. Morgen werden die Restaurants folgen, gestern ist die Grenze zu Luxemburg geöffnet worden, und bald wird man auch keinen triftigen Grund mehr vorweisen müssen, um die anderen Nachbarn zu besuchen. Und auch die Volkswirtschaften erwachen langsam aus dem Koma. Die Finanzminister und die Zentralbanken aber werden sie noch lange auf der Intensivstation betreuen müssen. Und später dann in der Reha.
Ja, machen wir uns nichts vor: die Zivilisationen sind ernsthaft erkrankt. Und stärker noch als jede schwere Infektion – wenn man jeden Knochen spürt und das Husten schier den Brustkorb zerreißt – greift auch die Corona-Infektion die Organe der Gesellschaft an. Manches wird absterben, irreparabel, doch auch Neues wird wachsen. Ein neues Gewächs zeigt sich gerade jeden Samstag in den Städten.
»Wir wollen unser Leben zurück«, heißt es auf den Plakaten der sogenannten Hygiene-Demos in Stuttgart, München, Frankfurt und Berlin. Das klingt noch harmlos, fast wie aus Kindermund, aber es gibt auch andere Stimmen, Stimmen, die ihre Feinde suchen und gefunden haben. Verschwörungstheorien, die schnell ins Antidemokratische umschlagen, weil sie sich nicht darauf verstehen, an sich auch mal zu zweifeln. Vielleicht haben die Sozialpsychologen Recht, die die Attraktivität von abstrusen Machtkonstellationen damit erklären, dass die Bürger die verlorene Kontrolle über ihr eigenes Leben zurückgewinnen wollen. Wenn ebendieses Segment der Gesellschaft aber zur Auffassung gelangt, dass sie die Corona-Verlierer sind, kann sehr leicht eine neue Bürgerbewegung daraus werden. Zur Zeit, Stand Mitte Mai 2020, ist noch ungewiss, ob sich die neue Opposition nach weiteren Öffnungen im Sand verlaufen wird oder, wenn nicht, welche Farben sie dann tragen wird. Mir fällt es schwer, aus dem Stand heraus die Proteste zu bewerten. Eigentlich, so denke ich, zeugt es von gesunder Demokratie, wenn sich die Bürger artikulieren, gerade auch bei solch‘ gravierenden Einschränkungen des Lebens. Eine stumme, folgsame und überdisziplinierte Bürgerschaft müsste uns doch eher noch beunruhigen. Andererseits vertieft sich gerade in Corona-Zeiten der Graben des Misstrauens, den bislang die populistische Rechte gegraben hat. Die Lager haben sich noch nicht sortiert, bürgerrechtliches Engagement wird umspült von antisemitischen und xenophoben Strömungen. Das Camp der Misstrauischen befindet sich noch im Aufbau.
Fatalerweise sind wir durch die gesellschaftliche Vernunft – um es ein wenig pathetisch zu sagen – angehalten, misstrauisch gegenüber dem Mitbürger zu sein. Das gilt nicht direkt der Person vor mir in der Warteschlange an der Ladenkasse, denn wir alle stehen ja unter Virenverdacht. Jede und jeder ist nun ein Potenzieller. Aber gerade daraus formt sich ein neuer Alltagsmodus. Unter den Gesichtsmasken keimt das Misstrauen, denn wenn sie alle Gesichtsschutz tragen, denn signalisieren sie uniform ihre potenzielle Infektionsgefährlichkeit. Natürlich sagt mir mein Verstand, dass die Behörden dieses ›Alle‹ uns verordnet haben, und überwiegend wir sehen sogar den Sinn der Maßnahmen ein. Aber das schützt viele Bürgerinnen und Bürger anscheinend nicht davor, vom Virus des Misstrauen so sehr infiziert zu sein, dass sie sich mit politischem Vokabular bewaffnen und einen totalitären Coup hinter den Schutzmaßnahmen vermuten. Ja, es sind kleine Minderheiten, die Mehrheit ist eher bürgerschaftlich besorgt um die Fundamente des Grundgesetzes.
Zwei Monate Lockdown zeigen ihre psychologischen Stressspuren. Es gibt einiges aufzuräumen, wenn sich die Lage weiter entspannen wird. Den Verschwörungs-Anhängern empfehle ich eine grundlegende Bilanz ihres Verhältnisses gegenüber dem Staat, den Medien und der Wissenschaft. Ist es wirklich klug, sich selbst zum Opfer zu stempeln, statt dafür zu wirken, die Gesellschaft und die Politik auf einen nachhaltigen Entwicklungskurs zu bringen?