Im Dezember 1972 drückte der Astronaut Harrison Schmidt auf den Auslöser seiner Hasselblad-Kamera und schoss aus 45.000 Kilometern Entfernung ein Bild von der Erde. Nahezu wolkenfrei zeigt sich der afrikanische Kontinent vom Mittelmeer bis zum Kap der Guten Hoffnung, über dem Südpolarmeer tanzen weiße Wolkenfedern um die verschneite Antarktis. Blue marble, die Erde als eine blaue Murmel, das berühmteste aller Fotos von unserem Planeten.
Diese Bilder sind möglicherweise die wichtigsten Mitbringsel der Astronauten von ihren Mondflügen. Sie haben unseren Blick auf unser eigenes kosmisches Quartier verändert. Seitdem sehen wir unsere Erde gleichsam von außen, aus der Perspektive eines kosmischen Besuchers. Wir sehen das Ganze, erstmals. Ihre fragile Schönheit, das komplexe Zusammenspiel aus Licht, Atmosphäre und Wetter, den irdischen Garten für das Leben auf dem Land und in den Ozeanen. Philosophisch haben diese Fotos unseren Blick geweitet, denn über Jahrhunderte hinweg fixierten unsere Augen stets den Menschen, seine Freiheiten, Fähigkeiten und Bedürfnisse. Mit der Renaissance hat sich für ein halbes Jahrtausend eine starre anthropozentrische Sichtachse etabliert. Es zählen nur die Dinge, die uns nützlich sind. Selbst die philosophische Vernunft konnte den Verführungen kaum widerstehen, die vom Wahn der Machbarkeit ausgehen. Sie infizierte sich am Bazillus der Macht, als sie keine anderen Götter neben sich mehr duldete. Doch dann: Die Bilder von der aufgehenden Erde über der Einöde des Mondes. Mit ungeahnter Wucht sensibilisieren sie unsere Wahrnehmung für unser Oikos, für unser planetarisches Haus. Seitdem ist dem philosophischen Anthropozentrismus ein wichtiger Gegenspieler mit dem ökologischen Bewusstsein erwachsen. Es kultiviert nicht länger das Dogma der Nützlichkeit, sondern es richtet sich aus auf das Wunder und den Wert des Daseins.
Ideengeschichtlich muss man den Bogen weit spannen, um zu sehen, was gerade unterwegs ist. Und das ist atemraubend aufregend. Denn im Schatten der ökologischen Vernunft kommt eine alte Bewusstseinslage zu neuem Leben. Im Denken der europäischen Antike, aber auch in den Weltanschauungen der indischen und chinesischen Philosophien wurde das menschliche Selbstbild stets in größere Zusammenhänge gefügt. Der Mensch vollzog einen mal kleineren und mal größeren Grenzverkehr zwischen Mikro- und Makrokosmos. Immer ging es um die Frage, wie menschliches Handeln mit der kosmischen Ordnung harmonieren könne. Damit setzte sich der Erdenbürger zum Ganzen des Seins in Beziehung. Der Liberalismus, der heute in seinen Spielarten die Szene beherrscht, hat dagegen den Blick auf das Ganze preisgegeben. Das ist möglicherweise der Preis für den Fortschritt im gesellschaftlichen Leben. Ein Zuwachs an Selbstbestimmung, an Gerechtigkeit, an Wohlstand und Gesundheit. Das alles zur Verteidigung von Rationalismus und Aufklärung, von Technik und Wissenschaft. Doch die Naturkrise unserer Gegenwart ruft die holistischen Perspektiven zurück in unsere Aufmerksamkeit. Worauf können sich philosophisch unsere Hoffnungen stützen?
Auf eine Rückkehr von Spiritualität und Religiosität. Dosiert allerdings, nicht als Heilslehre, nicht als maschinenstürmender Irrationalismus, sondern um dem linearen Denken neue Flächen zu geben und vielleicht sogar eine dritte Dimension. Im Zeitalter des Liberalismus schreiten die Sehnsüchte nach dem Ganzen auf Taubenfüßen daher. Alles andere wäre ein Rückfall in das ideologische Zeitalter des Zwanzigsten Jahrhunderts. Der zarte Gang, für den ich plädiere, kann sich auf eine zweite fundamentale Sehnsucht berufen, auf das ästhetische Empfinden von Schönheit. Legen wir ästhetische Imperative an Stadtplanung, Industrieanlagen und Infrastrukturen! Und richten wir auch das soziale Leben im Kleinen wie auch im Großen an schönen Linien aus. Zugegeben: Der Schritt von Vision zu Wirklichkeit ist kein kleiner. Nur eine freie Diskursgesellschaft kann dafür Konzepte entwickeln. Aber ich setze alle Hoffnungen daran, dass unser ästhetischer Sinn die Brücke schlagen kann von den historischen Leistungen des Liberalismus zu den holistischen Neigungen der menschlichen Vernunft.
Dabei ist es nicht ohne Ironie, dass gerade die avancierte Technik der Raumfahrt die Menschheit sensibler und auch demütiger auf die Natur eingestimmt hat. Wenn Reisen das Bewusstsein nachhaltig verändert, dann sind es die Ausflüge in den Orbit. Alexander Gerst richtete im November 2018, kurz vor seiner Rückkehr von seinem zweihunderttägigen Aufenthalt in der Internationalen Raumstation, 400 Kilometer über der Erdoberfläche, eine Botschaft an die ungeborenen Enkel: „Wenn ich auf Euren Planeten so herunterschaue, dann denke ich mir, dass ich mich bei Euch wohl entschuldigen muss. Im Moment sieht es so aus, dass wir, meine Generation, Euch den Planeten nicht gerade in bestem Zustand hinterlassen werden,…dass wir die limitierten Ressourcen viel zu schnell verbrauchen. … Ich hoffe sehr für Euch, dass wir noch die Kurve kriegen und ein paar Dinge verbessern können. … Und ich würd‘ mir wünschen, dass wir bei Euch nicht in Erinnerung bleiben als die Generation, die Eure Lebensgrundlagen rücksichtslos und egoistisch zerstört hat. Ich bin mir sicher, dass Ihr die Dinge inzwischen sehr viel besser versteht als meine Generation. Und wer weiß, vielleicht lernen wir ja auch noch etwas dazu. Dass ein Blick von außen immer hilft. Dass dieses zerbrechliche Raumschiff Erde sehr viel kleiner ist als wie es die allermeisten Menschen sich das vorstellen können.“