Befindlichkeit Europa  

Die siebente Woche ist nun fast herum. Und langsam kommt wieder Leben auf. Auf dem Hafenmarkt, an dem noch nie an Boot angelegt hat, einem kleinen baumbestandenen Platz gerade um die Ecke, ein stiller Platz, aber heute Abend ist er belebter als sonst, Kinder tollen herum und vor dem Brunnen klampft ein Gitarrenspieler. Um ihn versammeln sich Leute, die in den Refrain einstimmen. Es ist ein früher Sommerabend in meiner Stadt, jetzt im Mai. Später, nach Einbruch der Dunkelheit, lebt eine kleine Ecke am Rathausmarkt auf, Leute sitzen auf den Stühlen vor einem geschlossenen Restaurant, die Szene ist eine Geste des Wartens, der Wartens auf Öffnung der Gastronomie.

Wir gehen gerade erste zögerliche Schritte in Richtung Normalität. Mit etwas eingezogenen Schultern schauen die Epidemiologen auf die Öffnungen, die die Politik vorgibt. Wird es schiefgehen? Kommt zweite Welle? In Corona-Zeiten spielen die Ministerpräsidenten die erste Geige, sie entscheiden jetzt über den Gang der Dinge. Deutschland: radikal föderalistisch. Ganz plötzlich kam es. Sachsen-Anhalt machte den Anfang und brachte eine Lawine in Gang, es schlägt die Stunde zur politischen Profilierung, und da steht Laschet gegen Söder, der Norden gegen den Süden. Und im großen Szenario stehen die USA gegen China. Russland hat sich überdehnt mit seinem Krieg in Syrien und rückt zurück in den Rang der kleineren Großmacht. Putin scheint wie gelähmt in Zeiten von Corona. Das Problem der Europäer: es gibt weltpolitisch keine verlässlichen Freunde mehr. Vielleicht Kanada, vielleicht Korea und Japan, vielleicht Neuseeland und Australien, vielleicht einige Andenstaaten. Die Zone der freien Welt ist kleiner geworden.

Mich berührt der gegenwärtige Weltmoment zutiefst. Ich spüre, dass wir gerade Geschichte erleben, wir stehen an einer Zeitenwende. Der Kampfplatz Virus beschleunigt den Gang des Geschehens, ich sehe mich wie auf einem Kork sitzend, der durch die Stromschnellen springt, dann unterzutauchen droht, aber schon ist der Kork schon stromabwärts unterwegs, in eine Zukunft hinaus, die er nicht kennt. So erratisch der Kurs des Kork, so verwirrt bin ich, denn ich ahne, dass sich die Welt zivilisatorisch gerade neu ausrichtet. Wie sie aussehen wird, die neue Welt oder, wie der Gouverneur von New York, Andrew Cuomo prägte: »The New Normal« – das weiß derzeit keiner. Die Geschichte hat uns und nicht umgekehrt.

Ich kann Ihnen aber sagen, wie mir zumute ist auf meinem Kork, der durch das Wasser treidelt. Mir ist – enthusiastisch, dann wieder skeptisch bis zur Hoffnungslosigkeit, und dann finde ich mich wieder in einem Vertrauen auf die Intelligenz unserer Spezies. Daran kann selbst Trumps Amerika nichts ändern, aber die Vision, dass das liberale gesellschaftliche Leben von zwei neuen Typen von totalitärer Herrschaft, der US-amerikanischen und der chinesischen, bedroht sein könnte, beunruhigt mich doch sehr. Dann wieder Vertrauen in die Stabilität der Institutionen, aber der erste Gedanke an die polnische und ungarische Erosion innerhalb der europäischen Familie rückt die politische Wirklichkeit wieder zurecht. Der Protofaschismus ist in Europa in mehreren Staaten angekommen, mit starken Persönlichkeiten, die erfolgreich auf die nationalistische Karte setzen. Orban, Kacynzki und Johnson bilden die europäische Ausgabe von Trump, Erdogan, Putin, Li Keqiang. Das ist eine reale Gefahr, sage ich mir, doch würde sich das autoritäre Virus nicht totlaufen bei heftiger Gegenwehr, bei Mobilisierung unserer Immunabwehr?

Darauf also hoffe ich. Das autoritäre Virus könnte sogar eine Sternstunde Europas bedeuten: Damals, so geht dann die Erzählung an unsere Nachgeborenen, damals fand Europa zusammen, weil es erkannte, dass es galt, Werte zu verteidigen, freiheitliche Werte, wie man so leichthin sagt, und das ist ja auch gar nicht falsch. Sie fühlen sich europäisch an, geboren und ausgebrütet in den Ländern seit der Aufklärung. Für mich sind es auch Bücher und Autoren, für mich ist es die Strahlkraft, die von Europa aus in die Welt geht, ich stehe da mitten inne im Licht Europas, und ich liebe gerade dieses Europa. Mir in meiner Generation wurde Europa  in der Schule durch den Seydlitz präsentiert – ich sehe gerade im Netz, es gibt ihn immer noch – , die großen Städte und Landschaften in Farbabbildungen. Früh fing es also an, dass uns Europa als weitere Haut angeschneidert wurde, und als Erwachsene pflegten wir sie, unsere europäischen Hautzellen, wir tragen ihr die Öle von Zivilisation und Kultur auf. Wir schätzen unsere Freiheiten, die Europa uns eröffnet. Gewiss, Europa auch hat dunkle Seiten, die Conquista, der Imperialismus und den Faschismus. Aber die Geschichte gibt Europa eine weitere Chance.

Es braucht, und das ist nicht wenig, den gestaltenden Willen dazu. Und der wiederum braucht gestaltende Persönlichkeiten. Große Zeiten bilden auch große Persönlichkeiten, heißt es. Welchem Europäer, welcher Europäerin trauen wir Europa zu?