Manchmal liegt eine frische Randbemerkung zu einem virulenten und allseits lautstark kommentierten Thema nur einen Steinwurf entfernt. Was ist über die Pandemie nicht schon alles geschrieben, geredet, visualisiert, ironisiert und polemisiert worden! Seit neun Monaten leben wir medial annähernd monothematisch – in tief gestörten, weil ermüdeten Weltbeziehungen.
Aber es gibt sie, die Steinwürfe ins nahe Gelände. Auf der Wasseroberfläche eines stillen Sees breiten sich Wellen ringförmig vom Einschlagsort aus und dehnen und stauchen das Spiegelbild in erhabener Langsamkeit. Es ist, als ob das Wasser atmet.
Und mit der Metapher des Atmens ist der Stein gefunden. Die ernsthaft an Covid Erkrankten erleiden Atemnot. Sauerstoff ist der Brennstoff des Lebens. Im Aus- und Einatmen nehmen wir die fundamentalste Beziehung zur Welt auf. Alle Philosophien, westliche wie östliche, indigene wie hochelaboriert verschriftlichte, erkennen im Atmen den Stoffwechsel des Seelischen. Die etymologische Wurzel des Atmens geht auf das Sanskrit ātman zurück, von dort aus schlägt es seine Verbindung zum lateinischen anima und findet ins Althochdeutsche Eingang als ātum und bezeichnet auf seinem Weg durch die Sprachfamilien überall das Seelische. Auch die altgriechische Herkunft über pno zu pneuma betont das osmotische Geschehen eines geistigen Lebens, das Welt in die Lungen aufnimmt und wieder ausströmen lässt. Im Atmen, so deutet es der Soziologe Hartmut Rosa, prozessieren wir unablässig Welt durch unseren Körper.
Dem mit dem Atem ringenden Covid-Erkrankten droht der Lebensfaden abgeschnitten zu werden. In der römischen Mythologie war dafür die Parze Morta zuständig, heute haust sie in den verklebten Lungenbläschen und unterbindet den Transfers des Sauerstoffs in den Blutkreislauf. Jeder, der nach einem kurzen Sprint oder bei einem Tauchgang in Atemnot geraten ist, kennt die Panik, die durch den ganzen Körper rast, durch die Bauchdecke hinein in die Genitalien und die Beine. Der Körper fühlt sich wie in einen Schraubstock eingeklemmt, das Herz pocht und pumpt, die Arterien schwellen an, der Kopfdruck steigt und nichts anderes zählt dann als nur der nächste Augenblick. Man kann ermessen, welch‘ satanische Foltermethode das Waterboarding darstellt: der Gefolterte wird qualvoll der Todesangst durch Ersticken ausgesetzt. Auch dem Covid-Opfer rückt der Tod langsam auf den Leib, das Sterben zieht sich über Tage hin und lässt den Kranken viele Tode leben, zumindest solange, bis ihn die komatöse Gnade ereilt. Gestern waren es allein in Deutschland 410 Fälle (RKI), und 3834 weltweit (WHO).
Soweit zum Atmen individuellen Lebens – und nun zur gesellschaftlichen Vitalität.
Also ziehen sie Wellen weiter, und in ihnen schaukelt nun das Bild der um Atem ringenden Gesellschaften. Ihre Organe – das wirtschaftliche und soziale Leben, die Schulen, die Universitäten, ja sogar die politischen Institutionen – sind angezählt. An neuralgischen Stellen sind die Aorten des Blutkreislaufs verstopft: beim internationalen Transfers von Waren und Gütern, im multilateralen Verhandeln von Interessen und Werten, in den weltoffenen, leiblichen Begegnungen von Bürgern. Mit gewaltigen Kapitalspritzen versuchen die Ärzte, das kardiovaskuläre System ihrer Patienten zu stabilisieren. Fast alle von ihnen weisen gravierende Vorerkrankungen auf. Die Umweltkrise hat ihre Lungen geschädigt und die Entgiftungsorgane Darm, Leber und Nieren zersetzt. Der nationale, bisweilen völkische Populismus erzeugt schmerzhafte rheumatische Erkrankungen und legt den Bewegungsapparat internationaler Institutionen lahm. Bei den westlichen Gesellschaften ist die Regelungsfunktion der Schilddrüse entgleist, in Fieberschüben fluten Maskengegner, Corona-Leugner und Verschwörungserzähler die Städte. Kurzum: die Gesellschaften liegen mit Schnappatmung auf den Stationen.
Soweit zum gesellschaftlichen Leben im Allgemeinen, doch besuchen nun wir eine der vielen Krankenstationen!
Zwar sieht es von Land zu Land verschieden aus, in China anders als in den USA, in Frankreich wieder anders als in Südafrika, doch die strukturellen Linien sind überall ähnlich. Lassen wir uns durch das ›Lazarett Deutschland‹ führen von Ärzten und Pflegepersonal! Auf den Krankenhausfluren stehen die Betten dicht an dicht, es sind die Privatpatienten, genauer, um keine Verwirrung aufkommen zu lassen: die Selbstzahler, die sich nicht auf eine gesetzliche Krankenversicherung abstützen können wie die ›systemrelevante‹ Industrie, die mit frischem Kapital durch die Beatmungsgeräte auf den Intensivstationen versorgt werden. Einige dieser Systemträger, so raunen die Ärzte hinter vorgehaltener Hand, hätten allerdings chronische Vorerkrankungen, schon vor Corona hätten sie am Markt geschwächelt, aber, nun ja, das sei die Entscheidung der Politik, Gemeinschaftshaftung bei Verlusten, Privatisierung der Gewinne, man wisse ja, wie das geht. Und nein, die Intensivpatienten wie Lufthansa, Tui, Adidas, die könne man nicht besuchen, zwar sind sie schon auf dem Weg der Rekonvaleszenz, was sich an den Aktienkursen ja auch zeigt, aber dennoch. Triage? Ja, die müsse man praktizieren bei dieser Patientenflut, und so habe es vor allem bei den Privatpatienten einige Abgänge gegeben ins Totenreich, die Innenstädte erzählen davon mit Leerständen in den Fußgängerzonen, kleine Läden und größere Kaufhäuser, Reisebüros, Hotels und Restaurants, Nagelstudios, Fitnesscenters und manche andere aus der modernen Freizeit- und Wohlfühlindustrie, die in den letzten Jahren entstanden sind. Wohlstandsspeck, abgesaugt während der Lockdowns, und dazu zählen auch die Kleinkünstler, die unabhängigen Kulturschaffenden, die kleinen privaten Theater, die Verlage.
Soweit zum Krankenbesuch, doch nun noch zum Chefarzt, er räumt uns einen kurzen Termin ein. Er ist von Haus aus Pulmologe, und so bringt er das Thema zurück auf das Atmen.
»In der Lunge sind es die kleinen Lungenbläschen«, so beginnt er, »die den Sauerstofftransfers ins Blut leisten, nicht die Bronchien und Bronchiolen. Davon haben wir etwa 300 Millionen, eine spektakulär große Anzahl, und zusammengenommen bilden sie eine respiratorische Oberfläche einer geräumigen 6-Zimmer-Wohnung. Sie halten das ganze System am Leben. Wenn wir dieses Bild auf unseren gesellschaftlichen Organismus übertragen, so sind es die kleinen Unternehmen, die Freiberufler und Soloselbständigen, die beständig für frischen Wind sorgen. Nehmen Sie die Kulturschaffenden! Auch dort steht und fällt alles mit den Individuen, mit ihrer Begeisterung für ihren Beruf. Ja, richtig, die Schauspielerin und der Dirigent, die im brausenden Schlussapplaus stehen, sind von der Intendanz und der Regie dorthin gestellt, das sind in unserem Bild die Bronchiolen des Kulturbetriebs. Aber den esprit, den lassen sie überspringen aufs Publikum. Die größte Anzahl der Lungenbläschen aber machen die Kleinkunstbühnen aus, die Schausteller, die Referenten, die in Sachen Bildung unterwegs sind, die Musiker auf dem Marktplatz während des Wochenmarktes. Einer Gesellschaft, denen die Inspiratoren wegsterben, kann nicht mehr richtig durchatmen. Es sind die Kunst und die Kultur, die das gesellschaftliche Klima ventilieren, sie sind der Frühling und der Sommer, und ohne sie herrscht tiefer Winter, die Jahreszeit der Infektionen.«