Angst und Risiko

Ich muss noch einmal auf die Angst zurückkommen. Mit ihr begann ich mein Corona-Tagebuch: „Ja, geben wir es uns zu, wir haben Angst.“ Das schrieb ich, als mir der Weltuntergang nahe schien im März 2020.

Letzte Woche war ich zusammen mit H. bei E. eingeladen, einen Abend auf der Terrasse mit großem Panoramablick auf die schwäbische Alb zu verbringen. Es war ein sehr warmer Sommerabend, und da der kurvige Weg hinauf in den Welzheimer Wald einige Motorrad-Freuden versprach, verabredete ich mit E., nicht zu ihm ins Auto zu steigen, sondern mit meinem Bike zu kommen. Dort angelangt, ging die Haustür auf und die beiden älteren Herren traten heraus, mit Maske bekleidet. Ich hielt es zunächst für einen Witz, für einen Willkommensscherz, vielleicht verleitete mich zu dieser Interpretation auch der Eindruck, den maskierte Gesichter mir manchmal erzeugen, nämlich ein breites Grinsen von Ohr zu Ohr. Sieh her, so humoristisch gehen wir mit der Situation um, schien mir vor allem H. sagen zu wollen, so witzig bin ich. Doch sehr schnell begriff ich, dass hier der Ernst den Ton angab, und als ich meinen ersten etwas despektierlich geratenen Kommentar abgab, konterte E: ob ich keine Nachrichten höre, ob ich nicht das RKI kenne?

Der Abend war dann sehr schön, warm und freundschaftlich, ich akzeptierte, dass der Weg durch die Wohnung zur Terrasse oder von dort zur Toilette nur mit Mund- und Nasenschutz erlaubt sei, schließlich übt E. ja sein Hausrecht aus. Auf der Terrasse übrigens durften wir die Maske abnehmen, so wie man im Restaurant es tut, wenn man seinen Platz bezogen hat. Und beide gehören ja auch zur Risikogruppe, zu denen mit Vorerkrankungen. Alles verständlich also, und alsbald nagte an mir mein Gewissen, mich bei der Begrüßung so wenig empathisch gezeigt zu haben.

Aber dennoch – wenn ich die Angst einmal von meinen beiden Freunden ablöse und sie als gesellschaftliches Phänomen betrachte, dann in der Tat wird mir angst und bange. Angst sei ein schlechter Ratgeber, sagte irgendwann einmal ein Politiker zu irgendeiner größeren Weltkrise. Davon handelte ausführlicher mein erster Tagebuch-Eintrag. Heute, fast fünf Monate später, schält sich mir aus der Angst immer stärker ihr unsozialer Charakter heraus. Denn wenn ich meine Angst vor Infektion zur leitenden Maxime meines Handelns mache, dann erwarte ich von denen, die den Laden am Laufen halten, ziemlich genau das Gegenteil: Da draußen soll bitteschön alles weiter funktionieren. Die Polizisten sollen sich weiterhin anpöbeln lassen, wenn sie eine Party in einem Park auflösen. Die Ärzte sollen mir weiterhin zur Verfügung stehen, wenn mich Krankheiten plagen. Die Erzieherinnen und Lehrer sollen weiterhin die Kinder betreuen und bilden. Die Welt dort draußen soll sich nicht auflösen, denn auch wenn ich mich aus ihr zurückziehe, so benötige ich sie weiterhin für meine Grundversorgung. Ja, auch die Produktion, der Handel, der gesamte gesellschaftliche Verkehr sollen weitergehen, ansonsten versinkt die Gesellschaft im Elend und meine eigene materielle Basis – meine Anlagenvermögen, meine Immobilienwerte, meine Pensionszahlungen, meine Energie- und Nahrungsmittelversorgung – schmilzt wie Butter in der Sonne. Zudem brächen sehr schnell soziale Unruhen aus, und irgendwann stünden Maskierte mit Baseballschlägern vor meiner Wohnungstür. Ich mute anderen Risiken zu, die ich selbst nicht zu tragen gewillt bin.

Das Berliner Max-Planck-Institut für Bildungsforschung hat in den Monaten April bis Juni 5700 Teilnehmer einer Studie auf ihre persönliche Einschätzung hin befragt, wie hoch sie ihr persönliches Risiko einschätzen, innerhalb des nächsten Jahres ernsthaft an Covid-19 zu erkranken und auf einer Intensivstation mit lebensrettenden Maßnahmen behandelt werden zu müssen. Im Mittel gaben 20-25 Prozent der Befragten an, sie sähen für sich diese Gefahr. Wie nicht anders zu erwarten ist, ergaben Feindifferenzierungen dabei weitreichende Unterschiede in den Altersgruppen. Aufschlussreich ist aber die eklatante Überschätzung des eigenen Risikos, das etwa bei einem Prozent liegt. Die Fehleinschätzung sei, so der Autor der Studie, Gert Wagner, bei neuartigen Risiken durchaus normal. So sei die Angst, Opfer eines Terrorangriffs zu werden, signifikant verbreiteter als die Befürchtung, bei einem Verkehrsunfall ums Leben zu kommen.

Es gibt noch ein anderes Leben als das leibliche, habe ich mehrfach in meinem Tagebuch geschrieben. Zu dieser Aussage stehe ich immer noch, auch wenn es manchen Unsinn gibt, den ich hier schreibend mittlerweile verzapft habe. Aber der Satz gilt immer noch, denn er hebt den Umstand hervor, dass Menschen kooperative Wesen sind, die sich im Lauf der Zivilisation hochdifferenzierte Sozialsysteme geschaffen haben, von denen das leibliche Leben gehalten, getragen und geschützt wird. Diese Systeme bedürfen ihrerseits nun des Schutzes vor einer Angstpsychose.

Das ist eine Aufgabe, die die Politik, die Wirtschafts- und Interessenverbände, die Kirchen (wo ist ihre Stimme?), die Medien und jeden einzelnen Bürger in die Pflicht nimmt. Gewiss und zugestanden: Die Institutionen haben es dabei leichter als die Bürger selbst, denn sie riskieren ja nicht Leib und Leben. Auf der anderen Seite tut sich vor allem die Politik dabei schwer. Sie muss das Thema Risiko auch denen näherbringen, die sich unbedenklich oder gar coronamüde zeigen, und sie muss dabei der Versuchung widerstehen, mit neuen Beschränkungen zu drohen. Denn solche Strategien erhöhen nur die Fieberkurve der Angst bei denen, die sich ohnehin aus dem öffentlichen Leben abgemeldet haben. Sie würden, bestärkt durch disziplinierenden Krisenlärm, ihren Wiedereintritt weiter verzögern. An den partylustigen Hedonisten gehen die Drohungen ohnehin vorbei.

Wir brauchen einen entspannteren Umgang untereinander. Alarmismus kann keine langfristige und nachhaltige Strategie sein, mit der die wirtschaftlichen Existenzen zu retten sind.