Amerika

Ja, Amerika ist ein Kontinent, die Vereinigten Staaten sind nur ein Teil davon. Doch dieser Teil interessiert gerade brennend, denn dort ereignet sich zurzeit der Aufstand der Zivilgesellschaft.

Noch ist es ein wenig Wunschdenken damit. Ein Aufstand in Amerika? Zweifelsohne brodelt es in der US-amerikanischen Gesellschaft, nicht erst seit Trump, denn gespalten ist die Supermacht seit über fünfzig Jahren. Historisch war es der Sturzrücktritt Richard Nixons 1974, der seine politischen Gegner abhören ließ während seines Wahlkampfes zur Wiederwahl. Das war der ›Sündenfall‹ der amerikanischen Demokratie gewesen, aber das war nichts und ist auch gar nichts gegen das, was Donald Trump seit dreieinhalb Jahren durchzieht. Und jetzt plötzlich erhebt sich die demokratische Zivilgesellschaft gegen ihren Präsidenten.

Das ikonische Bild lieferte Trump dazu, als er vor der Saint John’s Episcopal Church mit finsterem Gesicht eine schwarze Bibel beschwört. Das war ein Feldherrengang in mittelalterlicher Finsternis, sein Gefolge hinterdrein, Trump hatte alles aufgefahren, was er hatte: die Ministerriege, seine Tochter und den Kushner-Clan. Diese Szene ging um die Welt. Sie markiert den vorläufigen Tiefpunkt eines schnellen und jähen Absturzes. Vor wenigen Monaten noch verspottete er seinen Herausforderer als ›sleeply Joe‹, den kommenden Wahlsieg schien ihm kaum ein Kommentator streitig zu machen. Doch nun sieht alles plötzlich ganz anders aus.

Trump begann seine Amtsautorität zu verspielen, als das Corona-Virus das Land erreichte. Er opferte New York und war sogar bereit, die Stadt abzuriegeln – die Stadt unter Quarantäne zu stellen, die wie keine andere das Schaufenster Amerikas ist. Keine zwei Monate später drohte er, die Proteste der Black-Lives-Matter-Bewegung ebenso zu ersticken wie der Polizist Derek Chauvin es mit George Floyd getan hatte, nun aber mit Militär und bösartigen Hunden („vicious dogs“). Trump krönte sich zum ›President-of-War‹ und gab täglich bizarre Corona-Briefings mit seinem Epidemiologen Anthony Fauci, der dessen Eseleien mit stoischer Ruhe immer wieder korrigierte. Man könnte die Videoclips ein-zu-eins für eine laufende Satire halten, wären sie nicht so traurig wahr über den Tiefpunkt, den die amerikanische Politik nun erreicht hat.

Ich kann mich nicht in den Konflikt anschaulich hineinfinden, der Amerika gegenwärtig zerreißt. Dafür kenne ich die amerikanische Gesellschaft zu wenig. Es ist eher der Blick von einem interessierten Außen, den ich auf den Aufstand der Zivilgesellschaft werfe. Dabei bin ich keineswegs ein neutraler Beobachter. Denn ich werde von den Medien geführt, und die, denen ich vertraue, sind schon gleichsam von Natur aus zivilgesellschaftlich. Weltjournalismus ist überwiegend liberal, in den USA hat er seine Stimme in den großen Zeitungen des Ostens und auf CNN.

Die Ermordung George Floyd vor laufender Handy-Kamera mit einem Kreis von lautstark protestierenden Bürgern war der Funke, der die Proteste entzündete. Oder, wenn man es feuchter möchte: Die ganze Jauche, die Trump während seiner Amtszeit über die amerikanische Gesellschaft gekippt hat, sie fängt jetzt an, ganz erbärmlich zu stinken. Aus diesem Dunst aus Lügen, Intrigen, Verleumdungen, Diskriminierungen und anderen Schändlichkeiten, die Trumps krankes Ego perfektioniert hat, aus diesem Sumpf steigt jetzt die Zivilgesellschaft auf. Sie ist wieder da, Weiße demonstrieren mit Nicht-Weißen, die man heute betont neutral ›people of colour‹ nennt.

Heute wurde George Floyd zu Grabe getragen, ein großmediales Ereignis mit Live-Streams auf CNN und BBC. „It’s a moment of connectivity“, es sei ein Moment, an dem wir alle aufgerufen sind, uns mit anderen Gesellschaften zu verbinden, sagte eine Sprecherin der Beerdigungsfeier in Houston. Plötzlich sind Werte da und werden geäußert: Gerechtigkeit, mehr Bürgersinn, eine vertrauenswürdigere Exekutive. Der Funke springt über nach Amsterdam, London, Bristol, Paris, Berlin, Rom, Sydney, Rio de Janeiro und zu anderen Orten der Welt. Wir erleben gerade einen Aufstand der Zivilgesellschaften rund um den Globus. Wir stehen am Beginn eines neuen politischen Narrativs, das gerade entsteht, ein neuer Bürgersinn artikuliert sich.

Schrecklich ist das Video anzuschauen, das den kaltblütigen Mord an George Floyd zeigt, das Röcheln unter Schmerzen und Atemnot, die Anrufung seiner Mutter („Momma“), bevor er erstickt. Das Herz stockt mir, wenn ich die Details potenziert schockierend erlebe, die von einer mutigen 17-Jährigen Frau mit ihrer Handykamera festgehalten wurden. Das Video dokumentiert minutenlang das Sterben eines schwarzen Menschen unter dem Knie eines weißen Polizisten.

Beide Videos – Trump mit Bibel und die letzten Atemzüge Floyds – werden in die Geschichte der ikonographischen Bilder eingehen. Beide Videos lassen uns in einen Abgrund blicken, gegen den es nur eines gibt: den Aufstand der Zivilgesellschaft.