Eigentlich kann sich ein Chronist einer Pandemie nur irren. Denn Makulatur sind morgen schon die Situationen, auf deren Grundlage er heute um eigene Positionen kämpft. So sind die 99 Prozent, von denen in meinem letzten Beitrag die Rede war, zwei Wochen später schlicht Unsinn. Eigentlich wäre jetzt der Zeitpunkt, die Akten hier zu schließen.
Zum Glück für das Unglück: mit meinen Torheiten stehe ich nicht allein. Auch die durchaus illustre Gesellschaft von Journalisten und Kommentatoren aus allen Bereichen des öffentlichen Lebens legt in kurzen Abständen Analysen vor mit ebenso kurzen Halbwertszeiten. Die Öffentlichkeit verlangt nach pandemischer Krisenbeschallung, und ebenso vital regt sich der expressive Drang, mitzusingen im Chor der öffentlichen Stimmen. Überwiegend wird dabei alter Teig nur umgerührt, und selten gelingen erhellende Artikel wie der von Elisabeth von Thadden in der Zeit vom 29. Oktober, in dem sie eine seit über einem Jahrzehnt lodernde ethische Debatte um die faire Verteilung einer knappen Ressource aufarbeitet: die Ressource Impfstoff.
Die jüngsten Beschlüsse der Länder und des Bundes, die vor drei Tagen wie Schockwellen durchs Land schossen, sind noch nicht als geltende Verordnungen in den Amtsblättern publiziert, da regt sich schon massiver Widerstand: Weitgehender Lockdown des öffentlichen Lebens für alle Dinge, »die der Unterhaltung und des Vergnügens« dienen, wie es despektierlich im politischen Framing heißt und was alles unterschiedslos zu einem Brei verrührt, sei es ein Opernbesuch, eine Lesung im Literaturhaus, ein Yoga-Kurs, ein Essen im Restaurant oder das Abtanzen in einem Club. Kitas und Schulen bleiben offen (Gottseidank!), die Universitäten nicht (keine Systemrelevanz), Geschäfte ja, Hotels nein, und der Daumen geht herunter für den gesamten Bereich der Kultur. Die Logik hinter den Dekreten der Exekutive wird in den nächsten Wochen die Gerichte beschäftigen, davon kann man ausgehen. Denn auch die Gesellschaft ist mit und am Corona-Virus gewachsen und winkt nicht mehr alles durch, was ›von oben‹ kommt. Die Zeit des Zentralismus ist vorbei, die demokratischen Institutionen, vor allem das juristische Skelett der sozialen Ordnung ist intakt.
Und da muss es sehr erstaunen, dass die Exekutive erneut das Risiko eingeht, von den Gerichten abgestraft zu werden und einen Autoritätsverlust zu erleiden. Weshalb in aller Welt haben sich die Krisenmanager auf den Entscheider- und Beraterebenen nicht zu einer differenzierteren Vorgehensweise entschlossen? Weshalb der Rasenmäher? Zugegeben: Die hohe zweite Welle zwingt die Politik zum Handeln, und in der Hektik verstolpert man sich leicht. Gleichwohl, es sind Profis, die sich umgürten mit einem weiten Stab an Wissenschaftlern und Experten. Seit acht Monaten überstürzen sich die Studien von virologischen Untersuchungen zu nahezu allen Felder des gesellschaftlichen Lebens, die Lernkurve ist steil angestiegen. Besonders in den Fokus geraten sind dabei die gesellschaftlichen Kohärenz- und Fliehkräfte, auch dazu wieder stapeln sich Studien auf Studien. Da erscheint mir der Rückfall auf den blanken Zentralismus wie gegen den Trend gerichtet. Jedes Gerichtsurteil, das auf Verhältnismäßigkeit differenziert und eine zentralistisch verhängte Verordnung kippt, bedeutet einen Ansehensverlust der Regierungsorgane. Weshalb nur gehen der Bund und die Länder gerade diesen riskanten Weg?
Vielleicht, eine mögliche Antwort, kommt hier der fette Köder in den Blick, den die Regierung mit dem Versprechen auslegt, 75% an November-Umsatzausfall zu kompensieren. Offenkundig will man damit eine Klagewelle verhindern. Doch was für ein politischer Tauchgang kündigt sich da an! Will man allen Ernstes die Judikative – und damit den Rechtsstaat – mit Geldzuwendungen aushebeln? Wahrscheinlich wird man damit die DEHOGA einfrieden können, schließlich ist es »ein Angebot, das man nicht ablehnen kann«, capice? Bei einem Lockdown light macht die Gastronomie im ansonsten umsatzstarken Monat November mit dem Angebot auf jeden Fall einen besseren Schnitt. Und die anderen, um die es auch noch gehen soll in jenem ominösen Paket von 10 Milliarden?
Ich fürchte, sie kommen unter die Räder. Dabei gilt meine Sorge weniger der kulturellen Veranstaltersphäre der städtischen und kommunalen Einrichtungen. Die Theater, die Volkshochschulen und die sonstwie vom Steuerzahler finanzierten Kultur- und Bildungseinrichtungen werden in der Struktur überleben, weil sie zur Struktur gehören. Seit Beginn der Pandemie haben sie ihr Ausfallrisiko zudem – skandalös! – über arbeitsrechtlich fragwürdige Verträge auf die Solisten abgewälzt. Die etablierten Kultureinrichtungen leben in der Substanz von den prekären Arbeits- und Lebensverhältnissen der Soloselbständigen, die ihre Talente und ihr Können als freie Musiker, Referenten oder Stadt- und Museumsführer anbieten. Deren biographische und kulturelle DNS ist nicht auf politischen Zusammenschluss ausgelegt, es sind Überlebenskünstler und –kämpfer, die in ihrem Erfolg allein von ihrer Begeisterung getragen sind. Kein soziales Netz fängt sie auf, keine gesellschaftliche Struktur bietet ihnen einen Halt. In guten Zeiten bedeutete dies Freiheit und war der Nährboden von Kreativität. In guten Zeiten hat sich die Gesellschaft davon inspirieren oder auch nur unterhalten lassen. In schlechten Zeiten braucht man sie nicht mehr, denn nun geht es um das eigene Hemd.
Die Krisenverlierer sind diejenigen, die sich nicht machtvoll organisiert haben. Das »Angebot, das man nicht ablehnen kann«, ist deswegen so perfide, weil es auch noch die Verlierer der Krise gegeneinander auszuspielen droht. Und besonders gallig stößt mir auf, dass gerade die politischen Institutionen, die lautstark den gesellschaftlichen Zusammenhalt einfordern, sich nun auf der Seite der sozialen Spalter wiederfinden. Zu hart geurteilt? Auf jeden Fall bringen einzelne Granden in der CSU und der SPD schon einmal das Szenario in den öffentlichen Diskurs ein, auch der private Raum »könne« der polizeilichen Überwachung von Kontaktbeschränkungen unterworfen werden. Das sei in etwa so, als ob eine Ruhestörung zu später Nachtstunde vorliege. Ein trefflicher Vergleich, angetan, den kleinen und entscheidenden Schritt von ›könne‹ zu ›müsse‹ schon zu antizipieren. Und ebenso klein ist der Schritt von polizeilicher Ermahnung vor der Wohnungstür bis zur Kontrolle dahinter. Überdies: welche semantische Grenze trennt den nachbarschaftlichen Hinweis an die Ordnungskräfte von einer Denunziation?
Zu schwarz gesehen? Wir werden abwarten und dann klarer sehen. Ich hoffe aufrichtig, dass meine bitteren Worte nur eine weitere Torheit sind.