Es war die Nacht der Emotionen in den USA. Nachdem tagelang der Stand von beiden Kontrahenten auf 253:214 für Joe Biden eingefroren schien, bewegte sich der Zeiger nach den Auszählungen in Pennsylvania und Nevada mit einem Ruck über die magische Zahl, den threshold von 270. Überall in den Städten der USA gingen die Menschen auf die Straßen und tanzten.
Sie hatten eine Politik der Dämonisierung, der Lügen und Diffamierung abgewählt, für die Donald Trump seine Körpersprache perfektioniert hat: Die herrische Hand, mit der er auf seinen Pressekonferenzen unliebsame Journalisten abstrafte. Die finstere Entschlossenheit, die er mit seinem bronzenen großporigen Gesicht in Kämpferpose darbot, dazu in auffälligem Kontrast sein singendes Ostküsten-Englisch in leicht heiserer Stimmlage, die in unaufgeregter Lautstärke die größten Ungeheuerlichkeiten fast, in frivoler Weise könnte man sagen: appetitlich servierte. Mit seinen Handbewegungen stilisierte er seine Auftritte zu weltbedeutenden Ereignissen, die nicht nur der Nation, sondern dem ganzen großen Rest der Welt galten: Mal ein erhobener Zeigefinger, der revolverschnell auf das Auditorium zielt, dann das gestelzte Okay aus Null und den abgespreizten Drei, oder die beiden Handflächen streichen von innen nach außen und signalisieren ein Basta. Und unvergesslich die ikonographischen Szenenbilder: Trump hält wie sich eine Karikatur seiner selbst mit infantilem Grinsen eines Zwölfjährigen an einer amerikanischen Flagge fest. Trump hält eine schwarze Bibel wie einen Ziegelstein in die Höhe, nachdem die Nationalgarde ihm den Weg zur Saint John’s Church freigeräumt hat.
Die tanzenden Bürger schüttelten in der letzten Nacht den vierjährigen Albtraum aus ihren Gliedern. In Wilmington, Delaware, hielten Joe Biden und Kamala Harris ihre Siegesrede vor einem Pulk von Autos, auf deren Dächern die Anhänger saßen und ihre Stars and Stripes schwenkten. Schon optisch war der fundamentale Unterschied zum krankhaft narzisstischen Trump zu greifen. Trump wies seinem Team nur die Rolle von steifen Statisten zu. In Erinnerung bleiben die kurzen Auftritte seines Vize Mike Pence, der mit seinem in Frommheit vereisten Gesicht eher einen evangelikalen Priester im finstersten Mittelwesten abgibt, der seine Gemeinde vor dem Teufel warnt. Dagegen das freundliche Gesicht von Kamala Harris, die im Jogging-Outfit mit Joe Biden telefoniert: »We did it, we did it Joe, you’re going to be the next president of the United States!«, dabei streicht sie sich über die Haare wie in Verlegenheit, und dann folgt ein noch ungläubiges Lachen. Am Abend schließlich eröffnet sie in weißem Hosenanzug die Siegesfeier, ernster im Tonfall und mit ersten Bekundungen, wohin der neue Kurs gehen wird. Und als sie an die Adresse der Wähler gerichtet sagt: »You chose Joe Biden as the next president of America«, da strahlt sie eine echte und tiefe Begeisterung aus, die nicht nur dem Wahlergebnis, sondern eben auch der Zukunft ihrer zerrissenen Nation gilt. Eine Herzensbotschaft, es gilt, die Wunden zu heilen, die Donald Trump geschlagen hat.
Als der Tag nach der Wahl heraufzog, schaltete ich frühmorgens CNN an und war entsetzt, ja schockiert als ich sah, dass Donald Trump wieder einmal den Prognosen die Nase zu zeigen schien und mit den Zwischenergebnissen weit über den Erwartungen lag. Der Trumpismus steht für mich für einen Politikstil des ›We first‹, der zu großer Karriere ansetzt. Dabei sind es die knapper werdenden Ressourcen, natürliche wie soziale, die ihn begünstigen mit seiner Botschaft, man käme allein besser durch, weil die vorhandenen Machtgewichte einem in die Hände spielen – vorausgesetzt, man setze sie nur rückhaltlos ein zum eigenen Vorteil. Das ›We first‹ hat sich zu einem Handlungsrational entwickelt, das von Beijing bis Washington nicht nur Geopolitik organisiert. Es trennt auch die einzelnen Gesellschaften auf und separiert die Gewinner von den Verlierern, das Messer scheidet schnell die Nähte auf, die eine verantwortungsvolle Sozialpolitik mühsam geschneidert hat. Verträge sind schneller gekündigt als geschlossen, ein Nein hat die stärkere rhetorische Wirkung als ein Ja – zumindest war das die Rezeptur des Trumpismus. Es bleibt abzuwarten, ob die Republikaner aus der politischen Sackgasse finden, ob – und das Wort ist nicht zu groß gewählt – ob die USA sich weiter auf den Status eines ›failed state‹ zubewegen, wie jüngst wieder einmal der Kolumnist der New York Times, Paul Krugman, befürchtet.
Einstweilen jedoch ein Aufatmen, getragen von einer Welle hoffnungsfroher Begeisterung, der die Kraft eines Momentums innewohnt. Auch wenn zu erwarten steht, dass das ›We first‹ eine zu große Resilienz hat, um von einer Augenblicksstimmung fortgespült zu werden: Die Hoffnung steht, dass das politische Leben immer wieder diese Momente der Zuversicht erzeugen wird. Dass, wie Hannah Arendt einmal kühn gesagt hat, dass wir berechtigt sind, Wunder von der Politik zu erwarten ganz einfach deshalb, weil mit jeder Geburt eines Erdenbürgers ein neuer Beginn gewagt wird.