Das lange Pfingstwochenende hat begonnen jetzt am Freitagabend. Einzelne Gesprächsspitzen steigen empor aus dem murmelnden Geräuschteppich draußen am Rathausmarkt, wo die Restaurants ihre Tischzeilen ausgeweitet haben, um ihre Gäste abstandswahrend zu platzieren. Wir tasten uns nicht mehr so vorsichtig vor in eine neue Normalität, wir machen jetzt größere Schritte.
Und dabei fällt auf, aus wie vielen einzelnen Ringen unser soziales Leben besteht. Gerade weil nun jedes Land seine eigenen Verordnungswege geht, weil heute Hessen Beschränkungen aufhebt und morgen Sachsen, strecken sich die Öffnungen über Tage hinweg. So können wir das rasende Geschehen wie in Zeitlupe betrachten. Schule, Sportstätten, kleine Konzerte unter freiem Himmel zunächst, Restaurants. Die Bars bleiben bis auf Weiteres geschlossen, Kinos und Theater ebenfalls. Hotels und Ferienhäuser, Campingplätze und Ausflugsschiffe, Gottesdienste und Volkshochschulen, aber auch Fitnessstudios und Tanzschulen, alles blättert sich zurück ins normale Leben – doch zu allem hinterlässt man Telefonnummer und Adresse.
Ich selber bin noch nicht wieder angekommen da draußen. Mein Jahr steht noch immer am selben Ort wie vor dem Lockdown. Nun, so ganz stimmt das nicht, ein wenig an empirischer Weltbreite habe ich schon zugelegt. Aber dennoch scheint es mir so. Es ist, als ob der eigentliche Gang immer noch ein Verharren ist. Und es stimmt ja: wir sind immer noch eingesperrt. Immer noch sind die Grenzen mit wenigen Ausnahmen zu. Und jede kleine Rückkehr zu den Freiheiten von Schengen findet ihre Schlagzeile in den Nachrichten. Die Medien stimmen uns ein auf Urlaub in unserem eigenen Land. Und so denke ich, nicht nur ich empfinde, das Jahr sei stehen geblieben.
Nein, keineswegs hat die Zeit aufgehört zu fließen. Das merke ich am kletternden Sonnenstand. Als im März die Welt erstarrte, dachte ich mir, zum Glück in allem Unglück passiert das jetzt im steigenden Jahr, wenn die Lebenssäfte frischer zirkulieren. Wie wäre es gewesen, wenn wir mit der gesellschaftlichen Leichenstarre zugleich auch noch ins Dunkel eines langen, bevorstehenden, lichtarmen Winters gestürzt wären? Stattdessen wendete sich der noch kahle März in den April mit seinen endlosen Sonnenstunden, dann schloss sich der etwas wetterlaunischere Mai an, die Wiesen wurden fett und die Kastanien setzten sich ihre weißen und roten Kerzen auf. Die Natur machte weiter wie immer, und die Weinbauern beschnitten zu Beginn des Lockdowns ihre Reben, in den hellen Tagen des späten März. Die Zeit in der Natur scherte sich nicht um das Virus, doch die Menschen mussten ihre Zeitbewirtschaftung von einem auf den anderen Tag umstellen.
Vielleicht rührt mein Empfinden eines stehengebliebenen Jahres aber auch aus meiner eigenen psychischen Befindlichkeit her. Also: Umkehrung des Blicks. Seit Mitte März ruht das Geschäft, alle vorbereitende Arbeit auf Kommendes bleibt halbfertig und, ich muss gestehen, lustlos liegen. Es fehlt der Termindruck. Stattdessen streuen sich meine intellektuellen Aktivitäten in die Breite, mal philosophischer und mal mehr mit politischem Betrachtungswinkel. Ein paar Romane habe ich verschlungen. Das war und ist durchaus lustvoll, so einfach mal spazieren gehen zu können im weiten Gelände von Kultur&Zivilisation. Wie faszinierend doch die Welt sein kann, das erlebe ich gerade auch aus meinem eigenen Stillstand heraus. Einfach mal betrachten zu können, um aus der Ruhe heraus, in einem von intellektueller Lust inspirierten Moment dann eigene Worte zu finden für das Geschehen. Gerade dann, wenn auch die Experten ›auf Sicht‹ fahren, ist man nicht überfüttert von fertigen Analysen. Alles scheint türangelweit offen. Philosophisch ist das eine erregende Zeit, und ich imaginiere dazu meine Helden, die damals zur Zeit der Französischen Revolution auf der Bühne der Zeit standen und sich als Zeitzeugen eines weltverändernden Ereignisses begriffen und sich zukunftskompetent äußerten. Auch sie spürten, dass da draußen Kräfte walten, die alles Gewohnte aus den Angeln heben, dass sich Geschichte ereignet, gerade jetzt, draußen vor dem Fenster.
Vielleicht leben wir gerade im Auge eines Orkans. Drinnen Windstille, die Blätter hängen schlaff herab wie die Tage gerade im stillgestellten Jahr. Doch draußen, da gehen die Winde, und bald werden sie uns erreichen.