Nein, nicht alles war schlecht damals, wer behauptet das? Ich möchte fair mit der Vergangenheit umgehen. Jetzt, wo wir wirklich durchatmen können, fünf Jahre nach dem schicksalhaften Jahr 2020, können wir, ja sollten wir auch das Positive der damaligen Lebensformen sehen, denn sie waren es schließlich, die uns zur Vernunft haben kommen lassen.
Vor Corona – nach Corona, so lautet nun das Kreuz unserer neuen Zeitrechnung. Fast ist es frivol zu sagen, ein Virus tauche auf und ersetze das historische Erscheinen eines Messias, den manche für den Gottessohn halten. Aber tatsächlich – Corona übt eine heilende Wirkung aus auf die Weltzivilisation. Es war, das darf ich nun in fünfjähriger Rückblende sagen, es war eine Zeit großer Entscheidungen. Aber die Zivilgesellschaft hat gewonnen. Sie hat Kursänderungen erzwungen, sie hat begonnen, die großen Monopole zu zerschlagen, und das alles ist ja erst ein Anfang. Selbst das Zwei-Grad-Ziel der Erderwärmung ist noch in Reichweite. Und es steht sogar zu hoffen, dass die Menschheit aus der überstandenen Pandemie bessere Wege beschreitet – im Wirtschaftlichen wie im Kulturellen. Wir sind heute im Jahr 2025 humaner zur Biosphäre, und vielleicht formulieren wir in den nächsten Jahren die Rechte der Natur und setzen sie in die Verfassung ein.
So könnte es lauten aus dem Jahr 2025. Das wäre, wenn es denn so käme, schon sehr schön! Wir, heute im Mai 2020, hätten da einen rasanten Aufstieg vor uns, in Hoffnungen, die wir bislang nur träumten, fünfzig Jahre lang. In den Achtziger Jahren des letzten Jahrhunderts ereignete sich nämlich nicht nur die neoliberale Wende des Kapitalismus, sondern es gab auch einen Kulturbetrieb, der eher im linksliberalen Spektrum zu finden ist bis heute. Fünfzig Jahre rege, umsichtige, aufgeklärte und wissenschaftsaffine Wortführer in allen Disziplinen. Zunehmend international vernetzt, mit wichtigen Gesprächspartnern an der amerikanischen Ostküste, in Australien und mit den Zivilgesellschaften des globalen Südens. Die letzten fünfzig Jahre sind unser zivilisatorisches Erbe. Seitdem reift das weltoffene Bewusstsein, zunächst in Schulpartnerschaften, und später dann in Erasmus-Programmen und Firmenpraktika – unterwegs in der Welt. Das ist ein gutes Erbe, das wir nun einbringen.
Als also im Spätsommer 2020 virologisch das Schlimmste überstanden war, als uns nicht mehr die Sorge um das leibliche Leben drückte, besannen wir uns auf das soziale, wirtschaftliche und kulturelle Leben, auf das unsrige wie auf das der Anderen. Seit der Corona-Krise werden die Wissenschaftler gehört, das war das entscheidende Novum im gesellschaftlichen Lauf. Früher kamen sie über die Rolle von Warnern nicht hinaus, jetzt wird um ihre Expertise gebeten beim Transformationsprozess. Es ging beileibe nicht ohne harte Bandagen ab, von Frühjahr bis Herbst 2020 tobte ein Beteiligungspoker um den Staat, der als alleiniger Retter in der Krise auftrat. Die öffentliche Meinung drängte die Regierung dazu, ihre Kredite nur transformationswilligen Unternehmen zu gewähren. An den wirtschaftlichen Folgen der Depression musste sich auch der Finanzsektor beteiligen, es war vorbei mit Steueroasen, Leerverkäufen, Aktienrückkauf und Managerboni. Es war vorbei mit dem Selbstbereicherungssystem Casino-Kapitalismus, und das riss weitere Wirtschaftszweige mit sich. Wo früher der Widerstand der Lobbyisten für schier unüberwindlich galt, so schmolz er nach Corona dahin wie Butter in der Sonne.
Ich gebe zu: ich schildere die positiven Ereignisse sehr aus eurozentrischer Perspektive. Aber auch in den USA veränderte sich das politische Klima nach der Abwahl von Donald Trump sehr zum Besseren. Die Europäische Gemeinschaft gewann an Einfluss gegenüber den Mitgliedsstaaten, Internationalismus setzte sich gegen den Regionalismus durch, und knapp zwei Jahre nach Corona verabschiedete die EU ihr Euro-African-Partnership-Programm, jenes gigantische 5-Billionen-Projekt, mit dem die Europäische Union begann, sich zur ökologischen und zivilisatorischen Schuld an Afrika zu bekennen. Ohne ein prosperierendes Afrika könne es keine Zukunft für die Menschheit geben, das blieb nun kein Lippenbekenntnis mehr. Man konnte auch mit den Ortskenntnissen vieler NGO’s punktgenauer die Investitionen in afrikanische Zukunft platzieren, Direkthilfe statt Gießkanne, an deren Hauptstrahl sich vor Corona nur allzu oft die korrupten Eliten bereicherten. Endlich kamen bei uns und anderswo auch diejenigen Stimmen zu Wort, die früher ideologisch diskreditiert wurden. Das Wort vom Systemwandel gilt nicht mehr als Kampfbegriff, auch wenn der öffentliche Diskurs den Begriff des Transformationsprozesses bevorzugt, um die anstehende Radikalität der Veränderungen zu beschwichtigen. Es schlägt nun die große Stunde der wertorientierten Geistes- und Sozialwissenschaften, sie gewannen an Ansehen, sie spielten mit im Konzert der Transformationsstimmen.
Dabei ist alles noch Anfang. Aber die gesellschaftliche Vernunft reitet nun auf einem Momentum, auf einer Dynamik, in der die wirtschaftlichen Partikularinteressen sich dem Gemeinwohl unterzuordnen haben. Heute, fünf Jahre nach Corona. Und ich halte mich bereit, in weiteren fünf Jahren aus der »Werkstatt des Neuen Lebens« zu berichten, dann in 2030.