Gestern, an einem regenverhangenen Tag, wurden die Ausgangsbeschränkungen verhängt, wie es die Epidemiologen von der Politik verlangt haben. Auch im Café unter meinem Fenster bleiben nun die Tische leer. Der öffentliche Raum ist verwaist, eine unheimliche Stille breitet sich aus. Im Supermarkt markieren rotweiße Klebestreifen Raumgrenzen, die erst beim Freiwerden der nächsten Parzelle betreten werden dürfen. Die Kunden fixieren in den Regalen ihre Beute, kaum kreuzen sich noch Blicke, und wenn, dann kehren sie sich schnell wieder zurück in den eigenen inneren Raum. Ernst geht es da im Augenblick her, und dieser seltsame, bislang unbekannte Ernst hängt auch über der Stadt. Der öffentliche Raum hat seine eigentliche Bedeutung verloren, Stätte von Begegnung zu sein.
Das soziale Leben findet jetzt im Netz statt. Und da sprudelt es witzig, kreativ, mit vielen originellen Einfällen. Wir führen Telefonate mit Freunden und, so sagen sie, man käme sich jetzt näher. Ja, das erstaunt uns doch: wir pflegen unsere sozialen Netze, die wir mit unserem Leben aufgebaut haben. Ob alt, ob jung, das würden wir doch alle so tun. Plötzlich wird uns bewusst, was uns wichtig ist, wir suchen unsere Habitate auf und pflegen einen Freundschaftsgruß. Der kommt uns aus dem Herzen. Ein wahrer Freund sei wie ein zweites Selbst, meinte der alte Aristoteles. Wir greifen vielleicht nicht so hoch im Vokabular wie er, um da einzustimmen, aber das je eigene Habitat ist uns schon sehr wichtig. Was ich denke, was ich fühle, soll den anderen nicht fremd sein, Resonanzen sind erwünscht, man sucht einen gemeinschaftlichen Ort auf. Und dazu findet man sich im Internet. Und dieses Internet, das hat die witzige Eigenschaft, überall und nirgends zu sein. Bei mir auf den Knien, im Laptop auf der Couch. Und dann wieder sofort »da draußen«, am virtuellen Ort. Das Online-Gespräch der Kultur hat begonnen, es benötigt nicht mehr den physikalischen Raum, um begegnen zu können. Wir haben alles auf dem Schirm, daheim, in unseren privaten Räumen.
Leiblich aber sind wir alle eingesperrt, jeder hat seinen privaten Raum anders, je nach Wohnfläche, je nach Köpfen. Da mögen sich später mal die Psychologen daransetzen, um zu erforschen, welche seelischen Spuren eine längere Isolation hinterlässt – in China beginnen gerade erste Untersuchungen. Auf jeden Fall gibt es da in den privaten Mauern auch Stress, der Kesseldruck steigt. Isolation ist krankheitsfördernd. Dann wiederum gibt es die, die uns betreuen, das Krankenhauspersonal, die Verkäuferinnen, die Polizei, die Transportdienste. Sie alle müssen heftig Überstunden machen. Sie helfen, sichern und buckeln, sie beschicken den Versorgungsraum, gerade höre ich beim Schreiben das Martinshorn auf dem Altstadtring. Was dort draußen vor sich geht, davon weiß ich nur aus den Medien, von einem Corona-Ausbruch in einem Würzburger Altersheim etwa. Oder in einem Telefonat mit I., die aus der Welt der Pflege berichtet, von der Schwierigkeit, Infektionsabstand zu halten bei den pflegebedürftigen Hochbetagten. Was heißt es, fragte sie gestern Abend, wenn die Hand einer Sterbenden kein Angehöriger mehr halten kann?
Was aber ist mit denen, die noch da draußen sind, auf einem anderen Kontinent? Gestern ergatterte meine Tochter einen der letzten Flüge aus Mexiko, ihr regulärer Rückflug wurde gecancelt. An vielen Flughäfen stauen sich die Rückkehrer, alle suchen Zuflucht zu den ihren nationalstaatlichen Räumen. Rückholprogramme, individuelle Lösungen und dann wiederum geht nichts mehr. Der mundiale Raum wird mit Grenzschließungen zu einem geopolitischen Raum, in dem Distanzen plötzlich nur noch sehr schwer zu bewältigen sind.
Und doch: der virtuelle Raum lebt und fängt vieles auf. Neue Formen der Nachbarschaftshilfe entstehen, glokal heißt schon das neue branding. Einkaufen, Kinderbetreuung, kleine Gefälligkeiten stehen an zum Tausch, Theater, Konzerthäuser, Unternehmen, Institutionen und Vereine bilden neue Kommunikationskanäle zu Bürgern und Kunden. Vielleicht sehen wir im Netz eine glokale Gesellschaft entstehen? Wenn wir genau hinschauen, dann können wir sehen, wie Räume der Hoffnung entstehen.
Wir brauchen sie dringend, diese Räume der Hoffnung. Jeder und jede kann ein Hoffnungsbild sein. Im Raum der Hoffnung begegnen wir uns anders, nämlich weicher, einfühlsamer und gesprächsbereiter. Doch davon bald mehr.