Angst

Ja, geben wir es uns zu, wir haben Angst. Überwiegend gilt sie nicht unserer eigenen Gesundheit, die jüngeren unter uns lassen kaum ja Symptome aufkeimen, und die Infektionsraten des Corona-Virus liegen immer noch im Promille-Bereich. Die Anderen sind nur statistisch gesehen eine Bedrohung. Aber diese ferne Bedrohung mutiert zu Angst-Szenarien an den Regalen der Supermärkte, der Börsenkurse, der einzelnen ungeschützten Existenzen von den Gastwirten bis zur Kreativwirtschaft. Die Angst frisst sich durch alle Bereiche unseres Lebens. Irgendwie ist etwas gewaltig in Unordnung geraten. Wir haben Angst um die Stabilität unseres Systems. Ganze Wirtschaftszweige können jetzt wegbrechen und für viele Jahre von der Bildfläche verschwinden. Die Welt von morgen, plötzlich können wir sie uns nicht mehr vorstellen. Aber gewiss ist, dass sie eine ganz andere Welt sein wird als die, die wir gewohnt sind.

Das alles vermag ein kleines Virus, das vom Tier auf den Menschen gewandert ist. Für die Natur war es ein kleiner Schritt, dort auf dem Markt von Wuhan. Vielleicht nur eine unmerkliche Mutation der viralen RNA. Die menschlichen Zivilisationen dagegen durchfährt es bis ins Mark. Unser gewohntes Leben steht dem Spiel. Unser Lebensstil. Wir haben uns daran gewöhnt, den gewaltigen Berg an Problemen der Zukunft aufzubürden. Wir leben weltweit eine Philosophie des Aufschubs. Und plötzlich scheinen die Zivilisationen keine Zeit mehr für Zukunft zu haben. Unsere Buchungen dort am ferneren Zeithorizont sind ausgereizt. Und jetzt droht der System-Overkill. Ein namenloses Es hat auf die Pausentaste gedrückt, die Gesellschaften erstarren in Quarantänen, das System fährt herunter. Und das macht Angst.

Angst sei ein schlechter Ratgeber, hört man in diesen Krisentagen immer wieder.  Und das ist völlig richtig. Denn in der Angst vereinzelt sich der Mensch und ist radikal auf sich selbst zurückgeworfen. Die Anderen sind ihm keine Stütze mehr. Philosophen unterscheiden gern die Angst von der Furcht. Furcht habe man vor etwas Bestimmtem, Angst dagegen habe kein deutliches Wovor. Gegen die Furcht lasse sich angehen, unser sozialer Körper aus Institutionen und öffentlichem Leben schützt die Individuen vor dem freien Fall. Die Angst aber kommt in anderem Kaliber. Sie lässt spüren, wie unheimlich, wie bodenlos, wie wenig vertraut uns doch das Leben ist. Angst, so meinte der dänische Religionsphilosoph Sören Kierkegaard, Angst sei der Preis für die Freiheit. Angst habe man vor dem In-der-Welt-Sein, so deutete Martin Heidegger unsere existenzielle Situation. Wie auch immer philosophisch die Akzente gesetzt werden – plötzlich reißt der dünne Film von Vertrautheit. Die Welt wird unheimlich, wir finden in ihr keine Heimat mehr. Wer sich ängstigt, der sieht nur noch sich selbst. Und dann stürmt er oder sie die Regale und hamstert, um wenigstens ein wenig an Kontrolle zurückzugewinnen.

Für eine Gesellschaft ist Angst ein tödliches Virus. Sie bringt eine Spirale in Gang, die sich in ihrem Verlauf stets verstärkt. Angst nährt Angst in einem Klima existenzieller Vereinsamung. Und ja, einsam sind wir in diesen Tagen alle irgendwie. Wie begegnen wir ihr, wie begegnen wir unserer Angst?

Jede Krise berge eine Chance in sich, lautet ein weiteres vielstrapaziertes Wort.  Und es ist ja wahr: wir lernen nur, weil wir Irrtümer begehen. Wir dürfen also tatsächlich darauf vertrauen, dass uns Umgangsformen gelingen, die uns sozial näher zusammenrücken lassen. Wir sind nicht allein. Unser Trumpf ist unser soziales Wesen, das vielbeschworene zoon politikon, das Aristoteles einst zur ersten tragfähigen Sozialphilosophie ausgearbeitet hatte und deren Grundidee wir auch heute noch folgen können, ja müssen. Gerade in Krisenzeiten gibt es keine Alternative zum Vertrauen in sozialen Dingen. Jeder mag darüber hinaus noch andere Vertrauensanker werfen, im religiösen Glauben etwa, in die Vitalität des Lebens oder in die Sinnfäden, die uns Literatur und Kunst zeichnen. Jetzt, wenn nicht jetzt? haben wir Zeit dafür. In der Entschleunigung unseres Lebens liegt die Chance, uns auf das Wesentliche unseres Lebens, auf ebendieses Vertrauenskapital zu besinnen. Jeder Anruf zu Freunden und Bekannten entlastet von der Spirale der Angst. Jedes Du macht uns zu einem Wir. Nehmen wir Kontakt auf zu unseren Nachbarschaften, bieten wir Hilfe an. Reden wir miteinander, aber treten wir dabei nicht die Katastrophenmeldungen breit, sondern bemühen wir uns gegenseitig um Stabilität und, ja auch das: um Trost. Jeder von uns trägt dazu bei, dass das kollektive Angstpotenzial im gesellschaftlichen Leben nicht noch stärker viral geht. Den Impfstoff dazu können wir uns selber fertigen.

Zur sozialen Etikette hat Angela Merkel gestern Abend in einer ihrer politischen Sternstunden das Nötige gesagt. Und auch in den Medien haben sich viele Stimmen dazu zu Wort gemeldet. Das Konzert der öffentlichen Stimmen hat in der Krise einen sehr einheitlichen Klang. Angstpsychologisch kontraproduktiv treten die Verschwörungstheoretiker auf, die sich über die sozialen Netzwerke verbreiten. Dazu gehört auch die gegenwärtig immer wieder zu vernehmende Ansicht, mit dem Corona-Virus schlage die Natur zurück.  Das ist in dieser unreflektierten Form Unsinn in Potenz. Die Natur hat keine strafende Faust. Diese Vision gehört in das dunkle Arsenal der Dogmen vom strafenden Gott. Wir sollten es nicht zu Erklärungen heranziehen. Und überhaupt zeigt sich Vertrauen und Solidarität darin, dass Schuldzuweisungen in überhasteten Diagnosen über unseren Weltzustand ausbleiben. Denn jetzt geht es um Wichtigeres, um Näherliegendes. Jetzt steht die Bewältigung der Krise an, und jetzt geht unser tiefer Dank zunächst einmal an alle die, die das öffentliche Leben aufrechterhalten: an Ärzte und Pflegedienste, an Briefträger und Verkäuferinnen im Supermarkt, an Lastwagenfahrer, Polizisten, Landwirte und Erntehelfer, an alle die, die Waren und Dienstleistungen weiter zirkulieren lassen. Die nicht sich nicht ins Homeoffice abmelden können. Die handeln müssen, ganz hemdsärmelig, für einen monetären Lohn, den die Gesellschaft stets zu gering geschätzt hatte bislang.

Aber das gehört schon zu den Lehren, die zu ziehen sind, später. Jetzt steht anderes an. Die Angst vor der Angst sei unser größter Feind, sagte der amerikanische Präsident Franklin D. Roosevelt zur Weltwirtschaftskrise der 30er Jahre des letzten Jahrhunderts. Machen wir es der Angst nicht zu leicht. Erzeugen wir Zuversicht!